Die Wüstenväter als Therapeuten

Zu: Daniel Hell, Die Sprache der Seele verstehen. Die Wüstenväter als Therapeuten. Freiburg i. B.: Herder; 3. Neuauflage der 7. Auflage (2007), 2010.

Daniel Hell, emeritierter klinischer Direktor an der PUK Zürich, hat schon 1992 in seinem Buch „Welchen Sinn macht Depression?“ die Grenzen des gängigen Krankheitsverständnisses überschritten und gewagt, der medizinisch als Neurotransmitterstörung erklärbaren Depression einen möglichen Sinn zuzuerkennen. Er sah das wichtige Bedürfnis der Betroffenen, in die Bewältigung des Leidens auch die Frage nach dessen Sinn mit aufzunehmen.

Mit „Die Sprache der Seele verstehen. Die Wüstenväter als Therapeuten“ ist er noch weiter gegangen, indem er durch den Mund der „Wüstenväter“ ein Seelenverständnis darlegt, das geistig-seelisches Wachstum in die Bewältigung psychischer Leiden integriert. Er schreibt:

„Dies scheint mir die grosse Entdeckung der Wüstenväter zu sein: dass sie die menschlichen Probleme nicht im seelischen Erleben suchen, sondern in den Gedanken und den Leidenschaften, die durch Wunschvorstellungen oder Befürchtungen entstehen.“ (S. 32)

Die eigene innere Wahrheit finden und so Gott näher kommen: das war das Anliegen der Wüstenväter. Als Wüstenväter bezeichnet man vor allem jene frühen christlichen Einsiedler wie z.B. Antonius den Grossen, die in der Zeit von ca. 300-600 n. Chr. in den Wüstengebieten des Nahen Ostens, vor allem in Ägypten, ein Leben in Abgeschiedenheit, Kontemplation und Askese führten. Kein Besitz, keine Gesellschaft, keine Abhängigkeit sollte sie davon ablenken, auf das eigene Herz zu hören. Sie waren so etwas wie, „Aussteiger“ in einer Zeit, als das Christentum zur Staatsreligion wurde und sich alte Herrschaftsfamilien der Kirchenorganisation bemächtigten. Zu dieser Bewegung gehörten auch Frauen und frühere Verbrecher und manche andere Aussteiger. Gerade das anarchische Ideal der Wüstenmönche trug dazu bei, dass sich der Kreis der Wüstenmönche zu einem sehr bunten Völkchen entwickelte, in dem unterschiedliche Charaktere Platz fanden.

Alle einte das Ideal der christlichen Askese: Anstrengung im Erwerb der Tugenden, die sich in den Geboten der Liebe äussert. Askese ist nicht „Leben in einer Höhle und ständiges Fasten“, sondern die Fähigkeit, die eigenen Instinkte zu regulieren. Vom Einsiedler Antonius heisst es zum Beispiel: „Mehr und mehr bezwang er seinen Körper und machte ihn sich gefügig […]. Denn, so sagte er, die Spannkraft der Seele sei dann stark, wenn die körperlichen Lüste schwach seien.“ (Athanasius, Leben des Antonius 7-14.)

Das Zentrum war aber das beständige Beten. Neben dem Morgen- und Abendgebet pflegten die Wüstenväter während der Arbeit und allen Verrichtungen ein verinnerlichtes Meditieren. Sie wiederholten kontinuierlich einzelne Sätze aus der Bibel. Evagrius Ponticus schrieb: „Es wurde uns nicht vorgeschrieben, beständig zu arbeiten, zu wachen und zu fasten. Hingegen ward uns geboten, unablässig zu beten.“

Die Grundfrage der Wüstenväter lautete: „Wer bin ich eigentlich? Was wird mir an mir selber klar, wenn ich auf mein Erleben Acht habe und mich der Stille aussetze?“ Oftmals erscheint es den Wüstenvätern angezeigt, lieber zu schweigen und dadurch den um Rat Bittenden zum eigenen Suchen herauszufordern, als wortgläubige Fragesteller vorschnell mit dem gewünschten Gut zu befriedigen.

Ein angesehener Eremit besuchte den Altvater Poimen. Dieser empfing ihn mit Freude, und nachdem sie sich umarmt hatten, begann der Besucher viel über die Heilige Schrift und von himmlischen Dingen zu sprechen. Da wandte sich Altvater Poimen von ihm ab und gab ihm keine Antwort. Als der Besucher sah, dass Poimen nicht mit ihm sprechen wollte, ging er betrübt davon und sagte zu seinem Begleiter: „Ich habe diese ganze Wanderung umsonst gemacht. Denn er will nicht mit mir reden!“ Da ging sein Begleiter wieder in die Höhle des Altvaters Poimen hinein und sagte: „Abbas, Deinetwegen kam dieser grosse Mann von weit her in diese Gegend. Warum hast Du denn nicht mit ihm gesprochen?“ Der Altvater gab zur Antwort: „Er wohnt in den Höhlen und spricht Himmlisches, ich aber gehöre zu den Unteren und rede Irdisches. Wenn er von den Leidenschaften der Seele und den Problemen des Lebens gesprochen hätte, dann hätte ich ihm wohl Antwort gegeben. Wenn er aber über Geistliches spricht, so verstehe ich das nicht.“ Der Begleiter ging nun hinaus und sagte das dem Besucher. Nun ging der Besucher nochmals zu Altvater Poimen hinein und fragte ihn: „Was soll ich tun, wenn die Leidenschaften der Seele über mich Macht gewinnen?“ Poimen richtete sich freudig auf und sagte: „Jetzt bist Du richtig gekommen. Nun öffne Deinen Mund für diese Dinge und ich werde ihn mit Gütern füllen.“

Gegen Ende des 4. Jh. hat dann Evagrius Ponticus, ein gebildeter Wüstenvater der dritten Generation, diese Erfahrungen der Wüstenväter in seiner praktischen Lehre vom Mönchtum und besonders vom Kampf gegen die acht Gedanken oder Laster systematisiert. Er erwarb durch sein schriftstellerisches Schaffen und seine wissenschaftliche Bildung hohes Ansehen unter den Wüstenvätern. Zu den acht Gedanken/Lastern gehört auch die Akedia, ein Gemütszustand innerhalb des Bedeutungsfelds von Traurigkeit, Melancholie und Überdruss.

Über die Akedia als Depression ist D. Hell als Psychiater auf diese frühchristlichen Wüstenmönche gestossen. Sie blieben selbst nicht von depressiven Verstimmungen verschont und haben dabei ein eigenes Verständnis des depressiven Überdrusses entwickelt.

Für D. Hell wurde klar, dass das Bemühen um einen gelassenen Umgang mit den Kräften der Seele die Wüstenväter zu einer Lebensweisheit geführt hat, die sich – trotz aller Unterschiede in der Lebensführung – auch in unserer Zeit hilfreich einsetzen lässt. D. Hell spürt dem Wissen der Wüstenväter nach, das sich aus moderner Sicht als „psychotherapeutisch“ bezeichnen lässt. Sie haben zwar keine „Seelenlehre“ im heutigen Sinne entwickelt, aber ihr Weg zu emotionaler Ausgeglichenheit (als „Reinheit des Herzens“ bezeichnet) vermag für ihn moderne Ansätze der Psychologie und Psychotherapie neu zu erhellen. Ihre Erkenntnisse zur „lähmenden Unruhe“ oder „spirituellen Trägheit“ lassen sich nutzen für den Umgang mit dem, was wir heute „depressive Verstimmung“ nennen. Sie war für die Wüstenväter eine Herausforderung und wurde aber auch als Chance verstanden, zu seelischer Gelassenheit und innerer Stärke zu gelangen, Eigenschaften also, die in unserer Zeit zunehmender -Beschleunigung und Ansprüche von aussen aktueller sind denn je.

„Aber wo sich die Techniken der modernen Verhaltenstherapie und der Wüstenväter ähneln mögen, ist doch das Ziel ein grundlegend anderes. Es geht den Wüstenvätern bekanntlich nicht um eine möglichst grosse Fähigkeit, den Alltag zu bestehen. Noch weniger geht es ihnen um völlige Leidensfreiheit, sondern um die Erfahrung der Transzendenz, d.h. um das innere Erleben des ‚göttlichen Keims‘“. (S. 54)

Kilian Karrer