Gesang und Pauke – Äthiopische Eindrücke (II)

Froh-ernster Glaube

Geez (Gə‛əz), die sakrale Sprache des altäthiopischen Reiches von Aksum, wird bis heute in der Liturgie verwendet, und die ganze Versammlung singt im Wechsel mit den zahlreichen Priestern, Diakonen und Däbtäras[1] die Hymnen, deren Worte in besonders feierlichen Momenten von Händeklatschen, Trommeln, Sistren, Gebetsstöcken und Jubeltrillern rhythmisiert werden. Bei festlichen Prozessionen wandern auch Musikanten mit, die Hörner, Flöten, Harfen und Leiern erklingen lassen. Dies und viele andern Rituale erinnern deutlich an biblische Stellen.[2]

Während die byzantinische Tradition jedes Musikinstrument in der Liturgie verbietet, zeichnet sich der Gottesdienst der Äthiopier durch den geradezu kanonisch organisierten Einsatz von Käbäro (Trommel mit zwei Fellen), Sänasel (Sistrum, Handrassel), Bägänna (Harfe) und Mäqqwamiya (Gebetsstock) aus. Diese „liturgischen Geräte“ voller Symbolik kommen denn auch auf Ikonen vor.

Wenn einem westlichen Christen des Mittelalters und der „Neuzeit“ die orientalischen Kirchen seltsam, „jüdisch“ und sogar häretisch vorkommen, so können Syrer, Armenier, Kopten, Äthiopier entgegnen: „Warum behauptet ihr, nur die Heilige Schrift sei für den Glauben mass-gebend, sitzt aber beim Gottesdienst in Bank-reihen wie im Theater und betet mit gesenkten Augen, statt vor Gott zu stehen und die Hände zum Himmel zu erheben, das Weihrauchopfer darzubringen, zu tanzen, zu singen und dem Herrn zuzujubeln, wie es in der Bibel steht?“

Neben der Natürlichkeit im alltäglichen Umgang mit Religion fällt Europäern das respektvolle Verhalten der Gläubigen auf: sie ziehen vor dem Betreten der Kirche die Schuhe aus (wie Mose vor dem brennenden Dornbusch, Ex 3,5) und werfen sich vor einer Ikone nieder, wenn sie zu einem Heiligen beten.[3] Das Bewusstsein von Heiligkeit und Reinheit äussert sich auch in den häufigen Fastenzeiten und in Speisevorschriften – wiederum ein Erbe des Alten Testaments (z. B. Lev 11).

Versuchen wir erst einmal, die reiche Bilderwelt der Hymnen zu verstehen, erkennen wir die Überzeugung, dass in Jesus der ewige göttliche Logos Mensch geworden ist und Maria Gottesmutter genannt werden darf. Im berühmten Blumenlied singen die Äthiopier:[4]

Dein Wunder ward, Maria, im Gesetz des Mose kund,

als du, der Dornbusch, mit der Gottheit schlossest einen Bund:[5]

So nämlich sah dich Mose, der Propheten erster Mund.[6]

Beschatte mich mit deinem Laub, das grün und stets gesund.

Die Glut der Blüte[7] brenn die Dornen, da ich sündenwund.

Orthodoxie – Rechtgläubigkeit

Seit dem 5. Jahrhundert haben Konstantinopel und Rom die orientalischen Gläubigen als Abweichler und ihre grossen Theologen als Irrlehrer betrachtet. Doch die Erforschung der liturgischen Texte haben im Verlauf der letzten hundert Jahre den Beweis erbracht, dass der Vorwurf des Monophysitismus[8] verfehlt ist – ausser kirchenpolitischen Gründen ist die verschiedene Auffassung des griechischen Wortes physis („Natur“) dafür verantwortlich.

Die gehaltvolle Theologie und vollendete Poesie würde den „verkopften“ Theologen im Westen viel verlorenes Gut zurückbringen – wenn sie sich denn dafür interessieren würden. Die äthiopische Kirche bezeichnet sich als Täwahedo-Kirche, wörtlich „Vereinigungs-Kirche“, weil sie die göttliche und die menschliche Natur in Christus (im byzantinisch-römischen Sprachgebrauch „Doppelnatur“) vollständig anwesend, aber vereinigt sieht. Deshalb nennt man sie heute nicht mehr polemisch „monophysitisch“ („einzige Natur“), sondern miaphysitisch („eine Natur“) und orientalisch-orthodox.

Obwohl diese Kirche erst seit 1959 mit einem eigenen Patriarchen aus der juristischen Abhängigkeit vom Koptischen Patriarchat Alexandrien entlassen wurde, hat sie seit ihren Anfängen ihr eigenes Gepräge behalten: Sie hat das urchristliche Erbe samt den syrischen, byzantinischen und römischen Einflüssen ihrer afrikanischen Kultur angepasst, jüdische und heidnische Bräuche entweder „getauft“ (d. h. christlich umgedeutet, z. B. Zauberliteratur in magische Schutzrollen, Amulette und Abwehrgebete gewandelt) oder aber geächtet (z. B. die im übrigen Afrika beliebten geschnitzten Idole).

Eine wahre Schwesterkirche

Im 4. Jh. bereits zur Staatskirche geworden, hat das Christentum mehrere Vernichtungsversuche überstanden, das letzte Mal das Därg-Regime (eine brutale Diktatur nach sovetischem Muster 1974-91). Dies ist einem tief verwurzelten Glauben möglich, der sich auf allen Ebenen äussert: in der Kenntnis der „Fünf Säulen des Geheimnisses“,[9] im täglichen Gebet der Familie, in der langjährigen Ausbildung der Geistlichen, in der Lebensweise der Mönche und Einsiedler, in der Pflege der liturgischen Formen, in der reichen Symbolik der Ikonographie und der Kirchen­architektur. So bestätigt diese Schwesterkirche, dass nicht Uniformität das Ziel der Ökumene sein kann, sondern Einheit im Glauben, der beherzt und kreativ in die eigene Kultur integriert ist – in gelungener Inkulturation.

Dr. Jean-Paul Deschler, Protodiakon

Fotos

1) Prozession mit vollem Einsatz

2) Gebet vor Gabriel als Beschützer der drei Jünglinge im Feuerofen (Dan 3) und als Verkünder in Nazaret (Lk1)

3) Nazrawit (= Christliches) Krankenhaus, Addis Abäba


[1] Theologisch und musikalisch hochgebildete Sänger, Tänzer und Schriftsteller (ohne Weihe).

[2] Vgl. 2Sam 6 (Prozession mit Gesang, Musik und Tanz); Ps 29,2 (Niederwerfen); 33,1-3 (Jubel, Leier, Harfe, Gesang); 81,3f. (Gesang, Pauke, Leier, Harfe, Horn); 150,3-5 (Horn, Harfe, Leier, Trommel, Flöte, Zimbel, Gesang, Tanz); 2Chr 5,12f. (Zimbel, Harfe, Zither, Trompete, Gesang); Dtn 16,11.14f. (fröhliche Feier); Apg 16,25 (Lobgesang); Eph 5,19 (Hymnen, Jubel); Ex 30,34ff. (Räucherwerk); Off 5,8; 8,3f. (Weihrauch) usw.

[3] Prostration, zum Ausdruck von Achtung und Ehrfurcht sehr häufig, z. B. Ex 33,10; 1Kg 1,23; Mt 2,1; Off 4,10.

[4] Str. 23 (übs. JPD); alle 156 Strophen des Hymnus bestehen aus fünf Zeilen mit Haufenreim!

[5] Der brennende und doch nicht verzehrte Dornbusch (Ex 3,2ff.) als Präfiguration der Gottesgebärerin Maria.

[6] Bild der Jungfräulichkeit Marias und der Inkarnation; vgl. die beliebte „mystisch-didaktische“ Dornbusch-Ikone.

[7] Christus, das göttliche Feuer, als Sohn Marias; vgl. das Weihnachtslied „Es ist ein Reis entsprungen“ (gemeint ist Maria aus der „Wurzel Jesse“, die uns „ein Blümlein bracht“ (Jesus).

[8] Ansicht, in Jesus habe die göttliche Natur die menschliche absorbiert.

[9] Dreifaltigkeit, Inkarnation, Taufe, Eucharistie, Auferstehung.