Hüben und drüben (I)

Eine Reise durch Rumänien und der Aufenthalt in einem orthodoxen Kloster vermitteln dem Besucher aus Westeuropa Eindrücke, die ihm an gewöhnlichen Touristen-Orten nicht zuteil werden. Einige kommentierte Notizen aus dem Tagebuch sollen eine Vorstellung davon ermöglichen.

Christlicher Kalender?

Seit langem empfinden es viele Gläubige als stossend, dass die Christen wegen den verschiedenen Berechnungsmethoden es nicht schaffen, ihr höchstes Fest über die konfessionellen Grenzen hinweg gemeinsam zu feiern (vgl. dazu die Ausführungen von P. Kilian Karrer in RB 2/2008). Dies geschieht nur ausnahmsweise, meistens liegen westliche und orthodoxe Ostern eine bis fünf Wochen auseinander. Ein eigenartiger «Vorteil» des Skandalons liegt darin, dass man die Karwoche wiederholen und zweimal Ostern feiern kann.

Osterfahrt

Nach Westen fliehen grüne Bäume,

die Sonne auch, viel Blütenpracht,

indes im Osten frohe Räume

mir Osterfrieden zugedacht.

Gib, Herr, dass an den leichten Lasten,

die Güte mir zu tragen gibt,

ich dankbar möge doch ertasten

die Vaterliebe, die nur liebt.

Auf der Bahn- und Autofahrt von Westeuropa durch Ungarn und Rumänien zeigt sich, dass im Osten wegen der kontinentalen Lage der Frühling später anbricht. Die Weite der Landschaft weckt Hoffnung und Vertrauen, von der gewohnten Hektik und Anspannung Abstand nehmen zu können.

P. Sándor und P. Ferenc, Priester der ungarischen Griechisch-Katholischen Kirche, mit denen ich seit Jahren befreundet bin, und ihre Angehörigen (sie sind verheiratet und mit ganz lieben Kindern gesegnet) haben den Gast mit erquickender Fröhlichkeit bei sich aufgenommen. Die Reise führt uns drei «Schwarzröcke» durch die Region von Nordwest-Rumänien, wo die bewegte Geschichte der vergangenen tausend Jahre und besonders des 20. Jahrhunderts eine eigenartige Nationalitäten- und Sprachsituation geschaffen hat: Der Grenzort heisst rumänisch Urziceni, ungarisch Csanálos und deutsch Schonthal, andere Städte und Dörfer in den Bezirken Satu Mare (Szatmárnémeti, Sathmar) und Maramureş (Maramuresch) haben rumänisch-ungarisch-ukrainisch-deutsche Namen, z. B. Remeţi (Pálosremete, Ремети) an der Theiss (Tisa, Tisza, Тиса). Mittelalterliche Völkerwanderung und neuere Migration, Wechsel der Staatszugehörigkeit, politische Parteiungen, Unfriede zwischen den Nationalitäten und Religionen, Deportation und Massaker haben bis heute Empfindlichkeiten und Querelen zur Folge. In Sighet (Sziget, Сигота, Siget) fahren wir an zahlreichen Kirchen vorüber: Meine Freunde sehen ihnen gleich an, ob sie orthodox oder protestantisch, römisch- oder griechisch-katholisch, rumänisch, ungarisch, deutsch oder ukrainisch sind!

Glaubenstreue und Misstrauen

Wie mögen die zertrennten Brüder

und Schwestern ihren Glauben wieder

zusammen leben, da sie Lieder

in vielen fremden Sprachen singen,

die falsch in ihren Ohren klingen?

Land der Kirchen und Klöster

Seit dem Sturz von Ceauşescu 1989 werden im ganzen Land viele neue biserici gebaut, besonders schön sind die orthodoxen Gotteshäuser, klassisch in der Kreuzkuppel-Architektur errichtet und mit Fresken ausgemalt. In Moisei (Majszin, Mosesdorf), wo bis zum Zweiten Weltkrieg eine grosse jüdische Gemeinde lebte, sehen wir uns die Himmelfahrts-Kirche an; dann klettern wir auf der kurvenreichen Strasse des Prislop-Passes über die Ostkarpaten – die Bergkämme sind noch verschneit – und folgen hundert Kilometer der Bistriţa (Beszterce, Bistritz) hinunter in die historische Region Moldau.

Um unser Ziel bald zu erreichen, besuchen wir nur en passant ein paar der berühmten Klöster, z. B. Petru Voda, dessen Aussenfresken anschaulichen Stoff für manche Religionsstunde böten.

Mǎnǎstire Sihǎstria

Zum heilgen Ort sind wir gekommen,

das Leiden Christi zu betrachten.

Wenn andre auch das Kreuz verachten:

Ich preise Ihn, Der’s angenommen.

Nach byzantinischer Tradition trägt jedes Kreuz die Aufschrift: JESUS CHRISTUS SIEGT. Am Karfreitag füllt sich die grosse neue Klosterkirche wieder mit Pilgern von nah und fern. Sie wohnen der zweistündigen Vesper bei, die Jesu erlösenden Tod und Seine Grablegung vergegenwärtigt. Und in der Nacht zum Karsamstag stehen die Gläubigen mit brennenden Kerzen im Gottesdienst der Grabesruhe und nehmen bewegt teil an der Prozession mit dem Epitaphion. Die Riten und Bilder, Schriftlesungen und Hymnen erfüllen uns mit froher Dankbarkeit für das erlebte Heilsgeschehen.

Mensch und Mönch

Man erhält hier fast den Eindruck, als seien die Rumänen nach vierzig Jahren aufgezwungener Gottlosigkeit ein Volk des Mönchtums! Es gibt Hunderte von Männer- und Frauenklöstern sowie Einsiedeleien, die von Pilgern jeden Alters aufgesucht werden. Viele Wallfahrer «wohnen» auf Campingplätzen der romantischen Umgebung. Uns hat P. Nils im Pilgerkomplex ein einfaches «Priesterzimmer» zugewiesen. Das Gespräch mit ihm und mit Archimandrit Bartolomeu Floria, dem Ikonenmaler, zu dessen Werken die wunderschöne Kirche gehört, zeigt auf angenehme Weise, dass die Abgeschiedenheit des Klosters und das Streben nach dem «engelgleichen Leben» einen Mönch bzw. eine Nonne nicht zwangsläufig von der Welt abhebt. Gerade Mönche mit einem «Vorleben» im weltlichen Berufsalltag und breiter Bildung bringen es fertig, Mensch-Sein und Mönch-Sein zu verbinden, und insbesondere bejahrte Beter und Büsser (auch der Schweizer Nationalheilige Bruder Klaus ist ein Beispiel) werden oft zu charismatischen Seelsorgern.

Hristos a înviat!

Um Mitternacht wartet Jung und Alt in der Kirche und draussen auf das Osterlicht, das sich von Kerze zu Kerze in aller Hände verbreitet, und die fast unbändig jubelnden Worte des Osterkanons fesseln die Gottesdienstbesucher bis zur Morgendämmerung an den Ort. Müde und fröhlich feiern wir weiter in der reich geschmückten Trapeza (dem Speisesaal), wo Abt Victorin selbst die Tische abschreitet, um mit allen Mitbrüdern und Gästen Eier zu titschen.

Ostergruss

In hundert Sprachen tönt es laut,

dass Christus wahrhaft auferstanden,

da leer das Grab die Fraun geschaut

und lebend Ihn und herrlich fanden.

Dr. Jean-Paul Deschler

Protodiakon