Barmherzig wie der Vater

Zum Jubiläum der Barmherzigkeit

Im Mittelpunkt des orthodoxen Gottesdienstes finden wir die Worte „Herr, erbarme dich“. In jeder Göttlichen Liturgie hören wir sie, in den Nachtwachen, in allen Gottesdiensten. Es wird schnell klar, dass „Herr, erbarme dich“ so etwas wie die Hauptidee ist. Selbst bei Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen steht die Barmherzigkeit des Herrn im Zentrum. Und in der klösterlichen Praxis sollen die Worte „Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner“ die ganze Zeit im Herzen widerhallen.

Im Alt-Griechischen hat das Wort für Erbarmen („eleos“) die gleiche Wurzel wie das Wort für Olivenöl („elaion“). Olivenöl wurde seit alter Zeit genutzt, um den Schmerz der Wunden, Prellungen und Verletzungen zu lindern. Im Hebräischen bedeutet das Wort für Barmherzigkeit beständige Liebe. Im kirchenslawischen sowie im Russischen, Serbischen und Rumänischen hat das Wort Erbarmen viele ähnliche Bedeutungen: Zärtlichkeit, Güte, Süsse, Mitgefühl und Mitleid.

Das Öl spricht zunächst vom Frieden, den Gott den Menschen, die ihn beleidigt haben, anbietet. Sodann spricht es von Gott, der uns heilt, damit wir in der Lage sind, so zu leben und das zu werden, wozu wir berufen sind. Und weil Gott weiss, dass wir nicht in der Lage sind, aus eigener Kraft seinen Willen oder die Gesetze unserer eigenen geschaffenen Natur zu erfüllen, giesst er sein Erbarmen reichlich über uns aus.

Wir sollen die Sünde nicht so sehr als böse Tat und Gott als den Richter ansehen. Auch wenn dies im wörtlichen Sinne wahr ist, geht es um mehr als das, um etwas viel Tieferes: Die Sünde ist eine Krankheit und Gott ist der Arzt. Mehr als alles andere suchen wir bei ihm Heilung.

Wenn wir um Erbarmen bitten, bitten wir Gott, uns zu lieben, unsere Schmerzen zu lindern, die vielen Krankheiten des Charakters zu heilen und uns so mit heiliger Liebe zu nähren, dass wir in bessere Menschen verwandelt werden.

Das Thema der Barmherzigkeit Gottes scheint auf im Evangelium vom Pharisäer und Zöllner. „Gott, sei mir Sünder gnädig „, betete der Zöllner. Seine einzige Bitte suchte das Erbarmen, Kyrie eleison! Ohne dieses Gebet wäre das Christentum eine Philosophie, eine Geschichte, ein System, aber nicht eine Religion, die rettet.

Das gleiche Thema der Barmherzigkeit Gottes kommt im Evangelium vom verlorenen Sohn zum Ausdruck. Für den Gottesdienst wird dies so paraphrasiert:

„Als der verlorene Sohn komme ich zu dir, barmherziger Gott. Ich habe mein ganzes Leben in einem fremden Land vertan, ich habe die Fülle, die du mir gabst, Vater, verschleudert. Nimm mich in Reue auf, o Gott, und sei mir barmherzig.“

Das Tor zur Barmherzigkeit Gottes ist Umkehr. Deshalb sagte der heilige Johannes von Kronstadt: „Beeilen wir uns, sein Erbarmen durch Reue und Tränen zu wecken.“ So wird in der Zeit der Busse vor Ostern am Sonntag nach dem Evangelium des Morgengebetes gesungen:

„Der Busse Türen öffne mir, Lebensspender, denn es erwacht mein Geist zu deinem heiligen Tempel, da er den Tempel des Leibes ganz verunreinigt trägt. Du jedoch als Erbarmungsvoller, reinige ihn mit deiner barmherzigen Gnade.“ Und weiter: „Erbarme dich meiner, o Gott, nach deiner grossen Barmherzigkeit, und nach der Fülle deiner Erbarmung tilge meine Missetat.“

Und im Grossen Apodeipnon (Komplet) steht dieses schöne Gebet:

„Erbarme dich unser, Herr, erbarme dich unser. Wir Sünder, die wir keine Rechtfertigung haben, bringen dir, dem Gebieter, dieses Gebet dar: Erbarme dich unser! … Öffne uns die Tore der Barmherzigkeit, gepriesene Gottesgebärerin, damit wir, die wir auf dich hoffen, nicht verloren gehen, sondern durch dich von allem Elend befreit werden; denn du bist das Heil des Christengeschlechtes.“

Eine Mutter bat Napoleon, das Leben ihres verurteilten Sohnes zu schonen. Der Kaiser sagte, dass sein Verbrechen schrecklich sei; die Gerechtigkeit verlange sein Leben. „Sir“, schluchzte die Mutter, „nicht Gerechtigkeit, sondern Barmherzigkeit.“ „Er verdient keine Barmherzigkeit“, war die Antwort. „Aber, mein Herr, wenn er es verdiente, wäre es keine Barmherzigkeit“, sagte die Mutter. „Ah ja, wie wahr“, sagte Napoleon. „Ich werde ihm Barmherzigkeit erweisen.“

Wir wagen es nicht, vor Gott zu treten und nach dem zu verlangen, was wir verdienen. Unser einziger Schrei ist: „Herr, sei barmherzig.“ Und das Wunder ist, dass die Barmherzigkeit da ist. Im Herzen des Universums schlägt das Herz der Liebe Gottes. „Ich sage euch,“ sagte Jesus über den Zöllner, „dieser kehrte als Gerechter nach Hause zurück, der andere nicht.“

Der heilige Isaak der Syrer hat einmal gesagt: „Sage nie, dass Gott gerecht ist. Wenn er gerecht wäre, würdest du in der Hölle sein. Verlass dich nur auf seine Ungerechtigkeit, welche Barmherzigkeit, Liebe und Vergebung ist.“

Deshalb beten wir so oft in der Liturgie: „Herr, erbarme dich.“ Dieses Gebet, auch mit einem noch so kleinen Glauben ausgesprochen, wird den Weg für die Vergebung Gottes und für das Kommen seines Reiches in unsere Herzen öffnen.

P. Kilian Karrer OSB