Begegnung

Ein weihnächtliches Motiv im Leben und im Glauben

Wir leben von Begegnungen.

Niemand lebt sich selber (Römer 14,7), abgeschlossen, im Vakuum, völlig losgelöst von mitmenschlichen Beziehungen und Begegnungen. Selbst der Wüstenvater beispielsweise oder – was es auch gab – die Wüstenmutter der frühen Kirche lebte zwar allein, abgeschieden, zurückgezogen, aber niemals beziehungslos. Die regelmässige Begegnung mit den Mitbrüdern oder Mitschwestern und der Kontakt zu den vielen ratsuchenden Menschen gehörte selbstverständlich zu diesem Leben in Abgeschiedenheit dazu. Über allem aber stand – und steht bis heute – nicht die Suche nach der Einsamkeit um ihrer selbst willen oder um der «bösen» Welt zu entfliehen, sondern die Suche nach echter Begegnung: Begegnung und lebendige Beziehung mit und zu Gott, einerseits erfahrbar in der Stille der Einsamkeit und damit in der intensiven, unausweichlichen Begegnung mit sich selbst, mit all den Tiefen und Abgründen im eigenen Herzen, anderseits erfahrbar in den vielfältigen und keineswegs nur harmonischen Begegnungen mit den Mitbrüdern, den Mitschwestern und den vielen Suchenden, die in ihren persönlichen Nöten Rat und Hilfe bei den Vätern und Mütter der Wüste suchten und suchen.

Wo solche Begegnung gelingt, kommt etwas in Bewegung.

Davon schreibt die Psychologin und Psychotherapeutin Anna Thekla Kühnis Hartmann (1942-2016) einleitend zu ihrem Buch: «Begegnung bewegt»[1]: «Zu seinem vollen Menschsein bedarf der Einzelne des Mitmenschen, der Umwelt, der Begegnung mit Anderen und Anderem. Begegnung impliziert Bewegung auf ein Gegenüber hin oder umgekehrt. Im Anderen, im Du erkennen wir Gemeinsames und Unterschiedliches. Wir brauchen das gleichgerichtete Mit-sein wie das Gegenüber, die Bestätigung wie die Konfrontation.»[2] Dabei beschränkt sich A. Th. Kühnis Hartmann keineswegs auf mitmenschliche Begegnungen. Auch die Begegnung mit einem inspirierenden Buch oder einem faszinierenden Bild kann etwas im eigenen Leben in Bewegung bringen. Verborgen Schlummerndes erwacht, bekommt auf einmal Raum und Ausdrucksform, kann sich entfalten und das Leben bereichern, vielleicht gar erst so richtig zum Blühen bringen.

Ikonen sind eine Einladung zur Begegnung

Von solchen Begegnungen geben die Ikonen der ostkirchlichen Tradition ein lebendiges Zeugnis. Zum einen – so Kühnis Hartmann – sind es die vielfältigen Motive ikonographischer Darstellung, die mitten hineinführen in das Geheimnis tiefer Begegnung mit Gott, dem Nächsten/der Nächsten und sich selbst. Zum andern aber ist es auch die Begegnung des Betrachters/der Betrachterin mit der betrachteten Ikone, die sich nicht in einer intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Dargestellten erschöpft, sondern vielmehr die Tiefenschichten des Betrachters/der Betrachterin dermassen anspricht, dass etwas in ihm/ihr auf schon fast geheimnisvolle Weise ausgelöst wird und in Bewegung kommt. Der Grund, weshalb Ikonen so stark auf ihre Betrachter wirken, dürfte in ihrer Nähe zu jenem Phänomen liegen, das der Schweizer Psychiater und Begründer der analytischen Psychologie Carl Gustav Jung (1875-1961) die «Archetypen» nannte, also jene Erfahrungen, Bilder, Symbole, ja auch Emotionen, die sich im Verlauf der Menschheitsgeschichte tief in der menschlichen Psyche eingeschrieben haben und daher über alle Zeiten und Kulturen hinweg wirksam bleiben. So kann Kühnis Hartmann schreiben: «Ikonen, die Bilder der Ostkirche, haben für diejenigen, die ihnen mit offenem Sinn und Geist begegnen, solch anstossende, bewegende Wirkung. Von ähnlicher symbolkräftiger Bildhaftigkeit sind übrigens auch die orthodoxen liturgischen Texte, die Hymnen. Die Wirkung beider beruht auf der Tatsache, dass es sich um archetypische Bilder handelt. Die Ostkirche versteht sie als von einer unsichtbaren transzendenten Wirklichkeit geprägte Abbilder. Als solche zeugen sie von Lebensstrukturen, die allem Geschaffenen immanent sind und die zu jeder Zeit Gültigkeit haben. Es sind Lebensmuster, in die wir eingebettet sind.»[3]

Die Weisen – Wagnis des Aufbruchs

Unter all den weihnächtlichen ikonographischen Motiven greift Kühnis Hartmann das Beispiel der drei Weisen heraus (vgl. Bild[4]), um die Tiefenschichten dieser biblischen Erzählung in ihrer bildhaften Darstellung auszuloten. Darin spielen nebst den Weisen, dem Engel und dem Stern selbst die Pferde eine zentrale Rolle in der Deutung der Darstellung. Diese edlen und kraftvollen Tiere und Wegbegleiter des Menschen haben in einer umfassenden Betrachtung der Ikone ihre ganz eigene und fast schon zentrale Bedeutung. Allein die marginal scheinende Beobachtung, dass nicht alle Hufe der Pferde auf dem Boden stehen, sondern gewissermassen über den Rahmen hinausweisen, mag den Betrachter/die Betrachterin darauf hinweisen, dass sich das hier Dargestellte nicht eingegrenzt und in einen engen Rahmen gepresst werden kann. Was sich hier abspielt, «hat Bedeutung und Wirkung über Raum und Zeit hinweg» (Kühnis Hartmann). Zusammenfassend: «Aus symbo-lischer Sicht verkörpern Pferde animalische Triebstärke und tragende, bewegende Lebenskräfte von grosser Instinktsicherheit, die in manchen Belangen der menschlichen Vernunft überlegen sind. In der Regel lenkt der Reiter sein Pferd. Wenn er in der optimalen Beziehung zu seinem Tier dessen Charakter und Eigenarten Rechnung trägt, erbringt das Pferd seinerseits die verlässlichsten Leistungen. In extremen Situationen kann, ja muss der Mensch ihm gelegentlich die Zügel frei geben und seiner Instinktsicherheit vertrauen. Es findet z.B. in den Stall zurück, wenn der Reiter die Orientierung verloren hat. Einem solchen Verzicht auf die Führungsfunktion entsprechen Lebenssituatio-nen, die wir mit den uns zugänglichen Entscheidungskriterien nicht mehr zu durch-schauen und zu bewältigen vermögen. Unsere Einsichten und unsere Logik stossen an Grenzen oder werden durchkreuzt. Das sind Lebenslagen, die oft mehr instinktiv und aus der Beziehung zum Unbewussten ausgetragen und durchgehalten werden können, als mit Logik und Wissen. Zu spüren, wann und in welcher Form wir unsere Ich-Pläne und Ich-Ziele aufgeben sollten, wann wir die ‚Zügel aus den Händen geben müssen‘, ist jedoch nicht immer leicht…Die Beziehung zwischen Ross und Reiter kann…Sinnbild werden für die Ich-Selbst-Beziehung. Die Magier haben Ähnliches erfahren und sind auf die innere Weisung eingegangen.»[5] – Die Begegnung mit der biblischen Erzählung der Weisen und ihrer ikonographischen Darstellung kann tief gehen und einiges in Bewegung bringen. So wird die altbekannte Erzählung der Weisen zu einer erneuten Chance, sich im Hören des Wortes Gottes und im Betrachten des Bildes tief berühren und bewegen zu lassen.

Daniel Blättler, Protodiakon


[1] A. Thekla Kühnis Hartmann, Begegnung bewegt. Begegnungen von Menschen auf Ikonen, Begegnungen von Menschen mit Ikonen, Verlag Fluhegg, 20072

[2] Kühnis Hartmann, S. 7

[3] Kühnis Hartmann, S. 8

[4] Fresko auf der Südfassade der Klosterkirche von Humor in Rumänien, Kühnis Hartmann, S. 77

[5] Kühnis Hartmann, S. 79-80