Das Zeugnis der Sprache

 

Die Muttersprache eines Menschen ist die Sprache, in die er „hineingeboren“ worden ist – daher englisch neben mother tongue („Mutter-Zunge“) auch native language genannt, ähnlich russisch родной язык („Geburts-Sprache“) – von „Vatersprache“ ist bekanntlich nicht die Rede. Mit der Sprache unserer Umgebung nehmen wir eine bestimmte Kultur auf, in der wir geistig Wurzeln schlagen. Diese Wurzeln sind so tiefgründig, dass wir nach der Pubertät nur mit etlicher Mühe andere Sprachen lernen, und viele Menschen empfinden Fremdsprachen unwillkürlich als seltsam oder sogar als abartig. Auch aus diesem Grunde ist es ihnen zuwider, sie zu lernen. Man neigt ja dazu, Ungewohntes und Unverstandenes als gefährlich und feindlich anzusehen.

Lob der Sprachenvielfalt

Es gehört zu den grössten Verbrechen, aus politischen oder religiösen Gründen einem Volk die eigene Sprache zu verbieten und eine andere aufzuzwingen. Deshalb und weil die Hälfte aller Sprachen der heutigen Menschheit vom Aussterben bedroht sind, hat die UNESCO den 21. Februar zum Tag der Muttersprache erklärt.

Schon 1500 Jahre früher hat Jakob von Serugh (gest. 521) die Existenz vieler Sprachen als kulturellen Wert betont. Sein Memra auf das Pfingstfest ist als eindrückliche Predigt in rund vierhundert Versen eines jener literarischen Werke, in denen die syrischen Kirchenväter hohes poetisches Niveau, tiefen theologischen Gehalt und didaktisches Geschick vereinen. Einige der zwölfsilbigen Verse sollen seine Gedanken auf Deutsch wiedergeben.[2]

(V. 85) Gegrüsst seid ihr von Babels auserwählter Schar,[3]

die gleichsam singt mit allen Zungen dieser Welt.[4]

(89) Da sie versteht, wie man in allen Sprachen spricht,

ist sie in Stimme, Wort und Zungen Babel gleich.[5]

Der Jünger Schar, die nicht in Schriften kundig war,

besingt in neuen Sprachen täglich Gottes Ruhm.

Da er das Wort von Jünger-Zungen nun vernahm,

so nannte Simon Petrus „Babel“ die Gemeinde bald.

(283) Dass jede Zunge froh des Sohnes Botschaft singt,

tut kund der Welt: Die Völker sind Sein Eigentum.

(287) Wenn eíne Sprache nur der Botschaft Werkzeug wär,

so kämen Jünger nur aus eínem Volk allein.[6]

(291) Hätt Er in fremder Zunge sich an sie gewandt,

die Lehre käm den Hörern gar befremdlich vor.

(369) In allen Sprachen strömt der Lehre hohe Flut,

wie gut begossne Lilien keimen Kirchen auf.

Diese und weitere Verse bezeugen ein klares Eintreten für die Idee der „Inkulturation“ und gegen die Tendenzen der Zentralisierung, die im Verlauf der Kirchengeschichte im Osten und Westen aufgekommen sind. Damit hängt die Abweisung eines Sprachenmonopols zusammen, und Jakob von Serugh kann in diesem Punkt als Vorläufer der Slavenapostel Kyrillos und Methodios gelten, die im 9. Jh. die sog. Dreisprachen-Häresie ablehnten. Möglicherweise hat er ein Vorrücken des Griechischen zuungunsten der Volkssprache verhindern wollen; gerade im 5. Jh. wurde das Neue Testament neu ins Syrische übersetzt.

Bildersprache

Die Bilder an den Kirchenwänden und die Miniaturen in mittelalterlichen Büchern werden oft als „Armenbibel“ bezeichnet, weil sie den Analphabeten die Geschichten der Heiligen Schrift erzählen: Bei den Frauen beispielsweise, die sich grüssend umarmen, muss es sich um Maria und Elisabet handeln. (Dass Ikonen stets mit Namen, Titeln und auch längeren Texten versehen sind, dient dazu, jede Unsicherheit der Deutung auszuschliessen.)

Während die gemalten Bilder für den Betrachter gleichsam eine Sprache darstellen, also eine Aussage machen, sind richtig gewählte Worte fähig, im Zuhörer ein Bild zu erzeugen, das er versteht. Gerade der Orientale liebt es, auch abstrakte Begriffe und komplizierte Sachverhalte in bildkräftiger Sprache „anschaulich“ zu machen. Dichter-Theologen wie Jakob von Serugh verliehen ihren Predigten eine Versform, die man auch singend nachvollziehen konnte. Die damaligen Hörer sind von solchen Rhythmen sicher begeistert gewesen und fanden in ihnen eine geistige Heimat.

Dr. Jean-Paul Deschler

Protodiakon


[1] Vgl. Teil I in Rundbrief 6/2011.

[2] Das Original ist syrisch-aramäisch (einst Verkehrssprache von Palästina bis Persien).

[3] Jakob ahmt hier eine viel verwendete Grussformel der Apostelbriefe nach (ša’el šlāmā „nach Frieden fragen“für griech. aspazesthai „grüssen“), dazu die Ausdrucksweise des Petrus, der mit der Babel-Metapher die Christengemeinde im heidnischen Rom meint (1Pet 5,13).

[4] Gemäss der Anordnung Jesu bei Mt 28,19 u. Apg 1,8 verbreiteten die Jünger in allen Ländern das Evangelium.

[5] Die Zusammenstellung der Wörter qālē „Stimmen/ Töne/ Klänge“, melē „Wörter/ Worte/ Ausdrücke“ und lešānē „Zungen/ Sprachen“ mit ihren weiteren begrifflichen Konnotationen („Lied, Gesang, Rede, Schriftwort, Heilige Schrift, Logos, Versprechen, Sinn, Aussage, Urteil, Volk“ usw.) ist eines der zahlreichen Beispiele dafür, wie der Prediger-Poet „spielerisch“ mit den theologischen Gedanken umgeht.

[6] Die Meinung, dass die Erwählung zum Heil ausschliesslich dem Volk Israel gelte, widerlegt Paulus als „Apostel der Heiden“ nachdrücklich, z. B. Röm 9-11; vgl. auch die entsprechende Einsicht des Petrus Apg 10,34f.