Der Stern von Bethlehem – ihm folgen sie, ihm folgen wir

Eine Weihnachtsgeschichte

Schweigend, jeder in seine Gedanken versunken, gehen sie hinter einander her. Schritt für Schritt kommen sie voran, nicht schneller. Die Lasten tragenden Tiere haben sich an den gleichmütigen Trott gewöhnt. Nicht zum ersten Mal begleiten sie ihre Herren auf Reisen. Aber dies’ Mal scheint es etwas Besonderes zu sein. Sie führen keinen Auftrag des Herrschers aus, nein, sie sind auf ihrer eigenen Reise.

Sie entdeckten einen aussergewöhnlichen Stern[1]; des nachts ist er unverkennbar. Die Ungewissheit über den neuen Stern, der sie zu heftigen Diskussionen animiert hatte, ist längst der inneren Gewissheit gewichen: jetzt folgen sie ihrem Stern – daher das Schweigen. Vertrauen und stetig wachsende Zuversicht vertiefen sich in ihnen.

Tags über brütende Hitze, nachts hindurch bittere Kälte: so ist die Wüste. Die Wüste ist ihr Leben geworden. Sich gegen sie aufzulehnen, wäre sinnlos, verderblich, würde sie erbarmungslos in den Tod führen. Doch dies sind nur die äusseren Umstände, denen sie sich gefügig machen müssen. Aber ihr Herz, das spüren die Tiere, ist anderswo. Da ist keine Furcht, kein Unbehagen vor den Launen der Natur. Das Vertrauen macht sie stark. Und jeden Abend, wenn sie sich am Feuer wärmen, heben sie den Blick zum Himmel. Welch heiliger Moment, wenn der Sternen Glanz sich zu verdichten beginnt und wie ein Schmuckreif, wie ein königliches Diadem der erlesensten Edelsteine die Erde umgürtet. Das ist der Kosmos, wie die alten Griechen das mystisch leuchtende Weltall bezeichneten.[2]

Wenn die wiederkäuenden Tiere ihre Herren beäugen, sehen sie den Widerstrahl des Himmels auf ihren Häuptern, aber noch strahlender wirkt der Abglanz ihres Innern in ihren geradezu verklärten Augen. Sie betrachten den grossen, unbekannten Stern, der jetzt ihr Stern ist. Ihm folgen sie; ihm vertrauen sie. Längst kann ihnen nichts mehr anhaben. Glück und Freude erfüllen sie beim Gedanken, dass sie bald ihr Ziel erreichen werden. Jetzt ist es klar: die hohe Kunst der Sterndeutung hat sich bewahrheitet. Sie werden dem neuen König der Juden huldigen! Denn der Stern führt sie tatsächlich nach Palästina. Jupiter und Saturn – so nahe bei einander wie kaum je. Jupiter: der „Königsstern“ des höchsten babylonischen Gottes Marduk, und Saturn: der „Königsstern“ von Israel; beide im Sternbild Fische: das bedeutet die Geburt eines Königs in Palästina![3] Diesem „König aller Könige“ werden sie huldigen – nicht nur mit Geschenken, sondern auch mit Gebet und Andacht, wer weiss denn schon, ob er nicht vielleicht doch göttlich ist.

Für die drei Herrschaften ist dieser lange Weg, diese mühsame Reise zum eigentlichen Lebensziel geworden. Es hat sich gelohnt. Das spüren auch die Tragtiere, denn auf dem Heimweg begleitet sie zwar nicht mehr der Stern; an seine Stelle hat der Himmel einen Engel geschickt. Also stimmt es doch: dieser neu geborene König ist ein göttliches Kind![4]

Folgen also auch wir ihm und beten wir Ihn an!

Maria Brun, Dr. theol.


[1] Vgl. Mt 2,1-12.

[2] Das griechische Verb „kosmõ“ heisst „zieren, schmücken“; „kósmos“ bedeutet zunächst „Schmuck, Zierde“. Mit „kósmos“ bezeichneten die Griechen den mit Sternen geschmückten Himmel, das Weltall. „Ornament, Schmuck, Schmuckstücke“ heissen heute noch im Griechischen „kósmima / kosmímata“.

[3] Vgl. Woelk Ulrich: Sternenklar. Ein kleines Buch über den Himmel. – Dumont Verlag, Köln 2008, 42-44.

[4] Vgl. Mt 2,6 und Micha 5,1-4.