Die «Mystik» in der Heiligen und Grossen Woche

Am Heiligen und Grossen (grünen) Donnerstag begeht die Kirche die Erinnerung an die Fusswaschung der Jünger durch den Herrn, die Einsetzung des Heiligen Abendmahls, das hohe priesterliche Gebet Christi im Garten Gethsemane und den Verrat des Judas.

Der Heilige und Grosse Donnerstag hat eine besonders tiefe Bedeutung für die Kirche des Herrn, denn das heilige Opfer des neuen Bundes, welches fortwährend auf ihren Altären dargebracht wird, wurde an diesem Tag eingesetzt durch unseren Herrn und Gott Jesus Christus.

«Herr, während du mit deinen Jüngern beim Mahle sassest, tatest du mystisch dein allheiliges Opfer kund, durch das wir vom Verderben erlöst wurden, wir, die deine heiligen Leiden verehren.»
Kathisma des Hl. u. Gr. Donnerstag

Auf das Liebesmahl am Abend des Heiligen und Grossen Donnerstag folgt die schreckliche Vorahnung des Absturzes in die dunkelste Nacht des Leidens, der Angst und des Todes.

Die Steigerung beginnt schon bei der Geburt Jesu: Ephräm der Syrer (um 305-373) schlug den Bogen über die Geburt Jesu in einem seiner Hymnen vom ausgesetzten Christuskind in der Krippe bis zum Verlassensein im Garten Getsemane.

«Der Held trat in die Welt und nahm mit sich aus dem Mutterleib das Kleid der Angst.»

Leiden und Todesangst sind die extremsten For-men, die hineinreichen in die tiefste Dunkelheit, in der aber nicht der totale Abgrund, sondern Gott ist, der allerdings «Unbegreifliche». Er bleibt in dieser Situation auch für den irdischen Jesus der «Unerbittliche». Jesus inständige Bitte «Vater, wenn du willst, nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht mein, sondern dein Wille geschehe» (Lk 22,42) erhört er nicht.
Im Blick auf Jesus und sein Schicksal wird uns bewusst, dass Gott uns selbst Leid und Tod nicht erspart.

Der Evangelist Lukas erzählt, auf das Gebet Jesu hin: «Vater, wenn du willst, nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht mein, sondern dein Wille geschehe!…. erschien ihm ein Engel vom Himmel und gab ihm Kraft.» (Lk 22,42-43). Das heisst: Das Versprechen, dass Gott vor Leid und Tod bewahrt ist unhaltbar, aber der Glaube an Gott stärkt den Gläubigen, damit er die Prüfungen des Lebens selbst in der dunkelsten Nacht durchstehen kann. Darüber hinaus verheisst der Glaube eine unvorstellbare Zukunft durch das Ereignis von Ostern.

Paulus schreibt: «Wenn es keine Auferstehung der Toten gibt, ist auch Christus nicht auferweckt worden. Ist aber Christus nicht auferweckt worden, dann ist unsere Verkündigung leer und euer Glaube sinnlos… wenn wir unsere Hoffnung nur in diesem Leben auf Christus gesetzt haben, sind wir erbärmlicher dran als alle anderen Menschen» (1 Kor 15, 13-14,19).
Der Abgrund, in den wir alle fallen sieht aus wie tiefste Finsternis und ewiger Tod. Er erweist sich aber als Bestimmung, wir fallen ins Licht und in ein anderes, unvorstellbares neues Leben.

Am Heiligen und Grossen Freitag (Karfreitag) feiern wir die Erinnerung an das Leiden und den Tod unseres Erlösers und Gottes Jesus Christus. Im Morgengottesdienst werden durch den Priester zwölf Abschnitte aus den Evangelien gelesen, welche das Leiden des Herrn erzählen (Akoluthia). Während des Karfreitagsgottes-dienstes tritt der Priester mit einem grossen Kruzifix aus der nördlichen Tür und hält es vor den königlichen Türen stehend dem Volk zugewendet empor und singt: «Heute hängt am Holz, der die Erde über den Wassern aufgehängt hat».

Johannes Chrystostomos meint: «Ich sehe ihn am Kreuz und nenne ihn König», denn Kreuz ist ja nicht Ende, sondern nur eine Station, eine Voraussetzung der Auferstehung (Anastasis).
Die Gläubigen reagieren in diesem Moment oft emotional, als würde in diesem Augenblick Jesus tatsächlich gekreuzigt. Sie fühlen sich als anwesende Zeugen des Ereignisses der Kreuzigung.

Der Abendgottesdienst erinnert an die Abnahme des Herrn vom Kreuze. Der Epitaphios (Plascanica sl.), eine bestickte oder bemalte Ikone mit dem Leichnam Christi, wird herumgetragen und mitten in der Kirche auf ein Postament gelegt, welches das Grab darstellt (Koubouklion gr). Das mit Blumen geschmückte Bild unseres Erlösers wird darauf von Priestern und Volk verehrt.

Am Heiligen und Grossen Samstag wird im Morgengottesdienst die Plascanica (Epitaphios gr.) in einer Prozession rings um die Kirche getragen und darauf wieder zurück in die Mitte der Kirche, wo sie bis zum Mesonyktikon (Mitternächtliche Hore) des Osterfestes bleibt.

«Heute ruft stöhnend der Hades, vernichtet ist meine Macht. Ich empfing den Toten wie einen Sterblichen. Aber ich vermag Ihn nicht gefangen zu halten…» Stichera zu Psalm 140ff

Der Karsamstag wird in der Westkirche als Tag der Grabesruhe des Herrn bezeichnet. Ein Tag des Nichts, der Entblössung, der Sprachlosigkeit ohne Leid und Freude. Wir sind hineingenommen in einen unbegreiflichen Karfreitag und ein unfassbares Ostern. Es ist der Tag nach den Schmerzen: Das Leid hat seinen Höhepunkt überschritten und Schmerz- und Schmerzlosigkeit fallen nun zusammen.

«Christus ist auferstanden von den Toten durch den Tod hat er den Tod zertreten und denen in den Gräbern das Leben geschenkt» (Ostertropar).

Dieser Triumphschrei wird während der Ostertage unermüdlich wiederholt. Und die Osterikone verdeutlicht wohl das Tiefste aller Glaubensgeheimnisse. In ihrer Grundform bleibt sie einem gleich: Adam wird aus der Unterwelt geholt. Christus ergreift seine Hand und lässt den Gefallenen mit auferstehen.
Westliche Bilder zeigen oft folgende Szene: Das Grab öffnet sich, die Soldaten erschrecken, Christus ersteht mit einer Fahne in der Hand…
Im Gegensatz zu den westlichen Darstellungen ist das ostkirchliche Auferstehungsbild ein erlösendes, und die Osterikone trägt den Namen «Das Hinabsteigen Christi in die Unterwelt.» Das Mysterium der Auferstehung Christi ist die Grundlage aller Geheimnisse der Kirche. Deshalb ist der Höhepunkt aller Feiertage des Jahres auf Ostern konzentriert, alle übrigen Feiertage bilden den Weg dorthin, den Weg zur Auferstehung.
Das bringt die Auferstehungsikone zum Ausdruck. Die Tore zum Hades zerschlägt Christus, er steigt herab in den Hades, um Adam und Eva, stellvertretend für alle Männer und Frauen herauszuholen zur Auferstehung. Zusammen mit allen Menschen, die gerettet werden müssen, also für das ganze Menschengeschlecht.
Die Osterikone und die Hymnen des Festes bezeugen die Rettung des ganzen Menschen-geschlechts. Und sie unterstreichen auch den besonderen Charakter der Gemeinschaft der Gläubigen.

Christus ist auferstanden, er ist wahrhaft auferstanden!

Roger Schmidlin, Archimandrit

Literatur

– Orthodoxer Gottesdienst, Verlag Fluhegg 1999
– Handbuch der Ostkirchenkunde, Patmos Düsseldorf, 1984

– Geheimnis des Glaubens, Paulus Freiburg, 2003

– Ikonenphotos: Dr. J.-P. Deschler / Ikonen: Monika Deschler

– Hinweis zum Wort «Mystik» rel. Versenkung mit dem Ziel unmittelbarer Vereinigung mit Gott / theologisches Fach- und Fremdwörterbuch, Vandenhoeck und Ruprecht Göttingen, 1982