Die UNBEKANNTEN ASSYRER (I)

Kürzlich besuchte ich assyrische Eheleute, die seit Jahrzehnten im schweizerischen Exil leben und inzwischen auch Schweizer Bürger geworden sind. Sie erzählten von den Schikanen, denen «türkische» Christen in Ostanatolien unterworfen sind. Kinder müssen den islamischen Religionsunterricht besuchen, die Familiennamen werden durch türkische ersetzt, im Militärdienst wurde Šem‛un, der zu seinem christlichen Namen stand (es ist der des Apostels Petrus), ständig geschlagen und aufgefordert, zum Islam überzutreten.

Die Assyrer sind heutzutage weitgehend ein unbekanntes, ja sogar ein vergessenes Volk. Wenn überhaupt, hat man aus dem Geschichts- und Religionsunterricht noch eine vage Erinnerung an die kriegerischen Semitenstämme von Assur im nördlichen und die von Babel im südlichen Zweistromland. Beide «erbten» grosse Kulturgüter von den Sumerern, den genialen Erfindern der Keilschrift (im 4. Jahrtausend v. C.!). Assyrien erlebte seine beste Zeit – mit wirtschaftlicher und politischer Machtausdehnung – zwischen 900 und 600 v. C., danach hatte Babylonien seine Hochblüte: König Nebukadnezar eroberte Ninive im Norden und Jerusalem im Westen, was zur «Babylonischen Gefangenschaft» der Juden von 586 bis 538 führte.

Die Kirche des Ostens

Nachkommen jener heidnischen Assyrer sind die Christen im nördlichen Mesopotamien: im Nordosten des heutigen Staates Syrien, im benachbarten Südosten der Türkei – dort vor allem im Tur Abdin («Berg der Diener [Gottes]») –, im Norden des Irak und im Westen des Iran.

Wie ist in dieser Region eine der ersten Kirchen entstanden? Historische Quellen belegen, dass schon im 2. Jh. jenseits des Euphrat christliche Gemeinden bestanden. Nach apokryphen Berichten, die sich auf die Weisen aus dem Morgenland (Mt 2,1-12) und auf das Sprachenwunder an Pfingsten (Apg 2,8-11) berufen, gelangten Nachrichten von Geburt und Lehre, Leiden und Auferstehung des Gottessohnes schon im 1. Jh., ja sogar zu Lebzeiten Jesu nach Mesopotamien.

Märtyrerkirche

Die Länder des «Fruchtbaren Halbmonds» erleben seit Jahrtausenden politische und soziale Umbrüche; lange Zeit bildete der Euphrat die Grenze zwischen dem Imperium von Rom (bzw. Konstantinopel) und dem persischen Grossreich der Sassaniden (Neupersisches Reich, 3. – 7. Jh.). Um dem Herrscher nicht noch mehr Argumente für grausame Verfolgungen zu liefern, durften sich die Christen nicht mit der westlichen Kirche (zu der Byzanz gehört!) solidarisieren. Sie organisierten sich als Assyrische Kirche des Ostens unter einem eigenen Oberhaupt, dem Katholikos-Patriarchen von Seleukeia-Ktesiphon (Doppelstadt am Tigris, unweit des heutigen Bagdad).

Als die Perser Nisibis 363 eroberten, musste Ephräm der Syrer, der heilige Diakon und Asket, der bedeutende Dichter-Theologe, mit einem grossen Teil der Bevölkerung seine Heimat verlassen und die be-rühmte «Schule der Perser» in Edessa weiterführen. Seine «Nisibenischen Hymnen» sind ein bewegendes Zeugnis der politischen und theologischen Konflikte, die er erlebt hat. Er hat gewaltige Werke in Prosa und Poesie hinterlassen, die dem vielfach verkopften und verweltlichten Christentum biblisches Wissen und christliche Spiritualität auf wohltuende Weise nahebringen kann. Hier sei nur eine von vielen hundert Stanzen aus den 87 «Hymnen über den Glauben» zitiert (84,1)[1]:

Jener Schächer fand den Glauben, dieser fand ihn,

hob ihn hoch zum Paradiese. (Lk 23,42f.)

Jener schaut am Baum des Lebens (= am Kreuz)

so die Frucht und kostet sie an Adams Stelle.

(Anspielung auf Gen 3,22)

Wie einige Römische Kaiser der ersten drei Jahrhunderte haben persische Herrscher die Christen als angebliche Staatsfeinde auszurotten versucht, wobei unbeschreiblich grausame Foltern angewandt wurden. 640 eroberten die muslimischen Araber Nisibis, womit der Islam und die arabische Sprache vorherrschend wurden.

Stirbt das aramäische Christentum aus?

Die Assyrer blieben trotz wiederholten Massakern ihrem Glauben und der aramäischen Sprache treu, auch als im 13. Jh. Turkvölker ins Land eindrangen, das 1515 zum Osmanischen Reich geschlagen wurde. Nun aber wurden Diskriminierung und Unterdrückung der Christen noch schlimmer. Während des I. Weltkriegs kam es zum systematischen Genozid der Assyrer wie der Armenier, und seither wiederholen sich Pogrome und Morde, Verwüstung und Vertreibung. Die Mandatsmächte (Frankreich und Grossbritannien im Namen des Völkerbunds) haben es nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches versäumt, für dieses Volk einen eigenen Staat einzurichten; der Vertrag von Lausanne (1923) hat ihm nicht einmal Minder-heitenrechte zuerkannt! (Den europäischen Staaten war es damals wichtiger, noch mehr Kolonien für sich zu gewinnen.)

Mit Stolz können diese Urchristen darauf hinweisen, dass ihre Liturgiesprache das Syrisch-Aramäische ist, also verwandt mit Jesu Muttersprache – während Jahrhunderten Verkehrssprache von Ägypten bis Indien – und dass ihr neuaramäischer Dialekt nach dem Griechischen und Chinesischen das älteste noch lebendige Idiom der Welt ist. Gleichzeitig aber stellen sie fest, dass ihre Sprache wohl dem Untergang geweiht ist, denn sie kann in der Türkei nur heimlich gelehrt werden. Oft stellen desinformierte und fanatisierte Muslime christliche Familien vor die Alternative: Konversion, Auswanderung oder Tod.

Die zerrissene assyrische Flagge in der verschütteten Hand und die zerstörten Mauern in verwüsteter Landschaft auf einem Bild im Wohnzimmer unseres Freundes zeigt die Trauer dieses Volkes, dem die Heimat genommen wird und das im Exil mit seiner Sprache ein Stück seiner Identität verliert. Damit diese nicht ganz verschwindet, halten die Assyrer auch in der Diaspora ihrem Glauben die Treue.

Von dieser Zuversicht und vom Überleben einer Hochkultur erfahren wir einiges im nächsten Rundbrief.

Dr. Jean-Paul Deschler, Protodiakon

Illustrationen:

1) Kartenskizze: Nahost/ Assyrien

2) Bild: Sterbendes Assyrien


[1] Ausg. E. Beck, Des heiligen Ephraem des Syrers Hymnen de Fide (CSCO 154/155; Scriptores Syri 73/74) 1955. – Die Übs. hier im Versmass des syrischen Originals, JPD.