Diesseits oder jenseits? – Indische Erlebnisse (II)

Mobiltelefonie und sonstige Elektronik haben sich zwar auch in den orientalischen Alltag eingenistet, aber ein bedeutsamer Unterschied fällt dem westlichen Besucher ins Auge: Religion ist hier nach wie vor auch in der Öffentlichkeit präsent – und das hat nichts mit Rückständigkeit zu tun, wie unsere Reisegruppe auf Schritt und Tritt feststellen konnte.

Offenes Haus – offene Kirche

Ein offenes Haus fanden wir nicht nur im Kloster und in befreundeten Familien, sondern auch in der „Bergstadt“ Kattappana bei Mar Stephanos, unserem Cicerone von Kochi bis Kanyakumari, beim Erzbischof von Tiruvalla, Mar Koorilos, bei den Bischöfen von Pathanamthitta, Mar Chrysostom, von Mavelikkara, Mar Ignathios, von Marthandom (in Tamil Nadu), Mar Paulos, im SEERI (dem weltbekannten Institut für syrische Forschung, Kottayam) bei Direktor Jacob Thekeparampil, einem Freund seit vielen Jahren, und schliesslich im „syro-malankarischen Vatikan“ zu Thiruvanathapuram[1] beim Oberhaupt der Kirche, dem Katholikos Moran Mor Cleemis. Und zur Jahresschlussfeier der Matha-Schule von Thumpoly wies uns P. Varghese Malieckal die Ehrenplätze zu.

Gerade dieses fröhlich-besinnliche Ereignis zeigte mit Ansprachen und Tanzszenen (von allen Altersstufen gekonnt ausgeführt), wie das Christentum überzeugend im indischen Kontext inkulturiert ist. Das Motto des Schulfestes lautete: „Lasst euer Licht leuchten vor den Menschen.“ (Mt 5,16) So zeigen die Christen wie die Hindus ihren Glauben auch ungescheut in der Öffentlichkeit, denn das Schlagwort „Religion ist Privatsache“ wird nicht im missverstandenen Sinn aufgefasst wie im „humanistischen“ Westen. Vergleichbar einem Flugzeug arabischer Länder, das jederzeit die Richtung nach Mekka anzeigt, fahren in Kerala Lastwagen und Reisebusse mit Namen von Heiligen über der Frontscheibe: JESUS, ST. MARY, THOMAS, AL­PHONSA usw. Beliebt sind Wallfahrten – auch tage- und wochenlange zu Fuss – und Prozessionen um die Kirche oder durch die Ortschaften, wobei der dichte Verkehr von der Polizei gebändigt wird.

Zu den beliebten Pilgerzielen der Thomas-Christen gehören die sieben alten Kirchen, deren Gründung die Tradition dem Apostel Thomas selbst zuschreibt. Jene von Thiruvithamcode[2], Arapally („Königskirche“) genannt, konnten wir auf dem Weg zur Südspitze des Subkontinents besuchen. Dort, am Treffpunkt dreier Meere,[3] zieht der Tempel der „jungfräulichen Prinzessin“ (ihretwegen heisst der Ort Kanyakumari) hinduistische Pilger aus dem ganzen Land an, und ebenso berühmt ist die Tempel-Gedenkstätte für Vivekananda, den Vordenker einer „materialistisch-geistlichen“ Weltreligion. Diese Felseninsel darf man nur barfuss betreten – wie alle Tempel und Kirchen.

Botschaft und Zeugnis

Ebenfalls in Kanyakumari steht die weithin sichtbare Kirche „Maria vom Loskauf der Gefangenen“.

Der anfangs erwähnte Prediger[4] hat nicht bedacht, wie eindringlich Christus vor der Himmelfahrt Seine Gefolgschaft aufforderte, alle Völker zu Jüngern zu machen, sie alle Seine Anweisungen zu lehren (Mt 28,19), Zeugen von Jesu Leben und Lehre, Tod und Auferstehung zu sein (Lk 24,46) bis an die Grenzen der Erde (Apg 1,8). Die Männer und Frauen, die dem Herrn anhingen, blieben einige Tage bei Gebet und Gotteslob zusammen (Lk 24,53; Apg 1,14), um sich auf diese anspruchsvolle Aufgabe vorzubereiten. Das tun auch die jungen Leute in den Seminarien. Das Wort Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. (Jo 20,21) gilt aber nicht bloss für Theologiestudenten, sondern für alle Christen. Den indischen Gläubigen scheint es mithilfe von religiösen Bräuchen besser zu gelingen, den Glauben im Alltag zu verankern: mit dem Gebet bei Tisch und zu andern Gelegenheiten, dem Besuch von Kirchen und Wallfahrtsorten, der Feier von Namenstagen und von Festen im Verlauf des Kirchenjahrs, der Pflege von Gräbern und Begräbnis-Ritualen.

Der Missionsauftrag Jesu ist in den Evangelien, der Apostelgeschichte und den Paulusbriefen hundertfach gegenwärtig in Wörtern wie senden, Apostel (= Abgesandter), Verkündigung und verkünden, Evangelium (= Frohbotschaft), Lehre und lehren, bezeugen und Zeugnis. Das letzte ist im griechisch-lateinisch-deutschen Martyrium in der Bedeutung von „Blutzeugnis“ bekannt. Seit Stephanus (Ich sehe den Himmel offen Apg 7,56), Thomas (in Indien!), Thekla und Paulus (Sterben ist für mich Gewinn Phil 1,21) haben Millionen von Männern und Frauen unerschrocken (gelegen oder ungelegen 2Tim 4,2) für ihr Glaubenszeugnis den Tod auf sich genommen.

Helfer des Heils

Mit ihrem sozialen Engagement erleichtern die Christen ihren Mitmenschen zwar das irdische Leben, aber damit wollen sie sich nicht der Welt angleichen (Röm 12,2), sondern suchen, was droben ist (Kol 3,1f.). Deshalb muss unsere Titelfrage umgewandelt werden in die Aufforderung: DIESSEITS UND JENSEITS!

Dr. Jean-Paul Deschler

Protodiakon