Ein kleines Kind – der ewige Gott

Ist Kerubs Wagen, ist Maria Dein Gefährt?
Bist Du beim Vater, bist in Josefs Judenland,
in Vaters Schosse oder in Mariens Schoss,
bei einer ird’schen Mutter, auf kristallnem Thron?
Sind Feuerflügel Deine Stätte, Wind und Sturm,
ist es der Arm der jungen Mutter, der Dich trägt?
Soll auf des Kerubs Flügel-Stütze ich Dich sehn,
ist Sitz des höchsten Herrn das Knie der gläub’gen Frau?

Hymnen auf die Nähe Gottes

Das Zitat aus einer Verspredigt auf die Geburt Christi zeigt, dass Jakob von Sarug (syrischer Kirchenlehrer, 6. Jh.) bei seinen Zuhörern eine grosse Vertrautheit mit den Texten des Alten und Neuen Testaments voraussetzen konnte: mit den Bildern der prophetischen Visionen und der Psalmen sowie mit den Berichten der Evangelisten. Für viele Bibel-entwöhnte Christen (?) des Abendlandes müsste jede Zeile kommentiert werden!

In der syrisch-palästinischen Kirche begegnen wir der urchristlichen Tradition, die nach Ägypten und Äthiopien, nach Armenien und Georgien, nach Byzanz und Rom ausstrahlte. Gerade die grossartigen liturgischen Hymnen des hl. Eph-räm («Harfe des Heiligen Geistes», 4. Jh.) beeinflussten die Theologie nachhaltig, denn sie fanden überall Nachahmer, in Konstantinopel zum Beispiel Romanos («der Melode», 6. Jh., ursprünglich aus Syrien, wie Ephräm Diakon und Dichter-Theologe).

Fresko im Syrer-Kloster, Wadi Natrun, um 1100

Auch die Ikonographie früher Jahrhunderte ist voll klarer und dichter Aussagen. Eine Wandmalerei im Syrerkloster des ägyptischen Wadi    Natrun zeigt viele Details, die wir aus russischen Ikonen kennen (die aber schon auf einer Elfenbeintafel des 5. Jh. im Vatikanischen Museum zu sehen sind). Dem Kritiker, der meint, die Mutter Jesu wende sich von ihrem Kind ab, ist zu erklären, dass sie den Betrachter ansieht und als  Maria, Gebärerin Gottes (so lautet die syrisch-aramäische Beschriftung auf der roten Kline) auf Christus weist, wie sie es auf den Hodegetria-Ikonen tut.

Im Höhlendunkel stehn in derselben Estrangelo-Schrift die Worte des Engelgesangs: Ehre sei Gott in den Höhen, und auf Erden Friede und gute Hoffnung den Menschen (Lk 2,14). Die Magier aus dem Orient, welche als Gelehrte die Gestirne zu deuten versuchen, finden die Wahrheit im Kind in der Krippe, und sie bringen Ihm ihre Gaben: Gold dem König, Weihrauch dem Sohn Gottes, Myrrhe dem sterblichen Menschen.

Flucht nach Ägypten (Marienkirche, Tana-See)

Schon als Neugeborener ist Jesus dem Tod geweiht; dies deutet der steinerne Futtertrog an, der einem Schlachtopferaltar gleicht, ebenso die  Wickeltücher, die an die Totenbinden erinnern. Diese vorausschauende Darstellung macht deutlich, wie sich der göttliche Heilsplan erfüllen sollte: Der Brief an die Hebräer legt dar, dass Christus als Hoherpriester des Neuen Bundes sich Selbst als das endgültige Opfer dem Vater dargebracht und so für alle Zeiten Erlösung bewirkt hat (bes. Kap. 9). Sowohl das Fest der Erscheinung des Herrn (am 6. Januar) wie auch das der Geburt Christi dem Fleische nach (am 25. Dezember) hat unter diesem Gesichtspunkt eine ernste Note, die jedoch nicht Schrecken und Abwehr erzeugen soll, sondern Staunen, Ehrfurcht und Liebe.

Die Flucht nach Ägypten (und Äthiopien, wie die dortigen Christen gern ergänzen) zeigt drastisch, «dass der Menschensohn keinen Ort hat, wo Er sein Haupt hinlegen kann» (Mt 8,20). Gleichzeitig bleibt genug Raum für Vorstellungen beschaulicher Art, die sich etwa in den Darstellungen der heiligen Familie, des besorgten Nährvaters Josef und der stillenden Maria niederschlagen. Doch darf es nicht bei einer oberflächlichen Idylle bleiben, die einerseits zum behaglichen Familienfest und andererseits schliesslich zum neuheidnischen Weihnachtsrummel führt. Dieser koppelt sich vom Sinn des Weihnachtsfestes ab, während gerade Bilder der Galaktotrophousa (der «Milchnährenden») die geschichtliche Wirklichkeit und das tiefe Geheimnis der Mensch-werdung Gottes betonen. So sagt Jakob von Sarug in einem andern Memra auf die Geburt des Herrn:

Maria hat als Kindlein Dich ans Herz gedrückt /

zu schwach ist jeder Mund für der Geschichte Wort./

Dem All-Ernährer gab die Magd geborgte Milch,/

Die Hand, die alle Himmel spannt’, hielt ihre Brust./

Paradoxie und Glaube

Die Dichter-Theologen werden nicht müde, von biblischen Stellen ausgehend das Wunder der Inkarnation zu meditieren. In einem liturgischen Gesang der Koptischen Kirche klingt der Prolog des Johannes-Evangeliums an (vgl. Jo 1,14):

Als Jesus Christus, Gottes Wort, in Fleisch sich hüllt’,/

und Einer von uns ward, da sahn wir Seinen Glanz./

Übersetzungen können nur unzulänglich wiedergeben, was Romanos mit dem Aufgebot aller Mittel griechischer Verskunst in seinem Weihnachtskontakion ausgedrückt hat. Vor allem beschäftigt ihn die Verwirklichung der Paradoxien: dass Gott Mensch wird, dass der Schöpfer sich wie ein Geschöpf gebären lässt, dass «der über allen Wesen Seiende», der Ewige und Unendliche in die Zeit und die Begrenztheit der Materie kommt, dass eine Jungfrau Mutter wird. Der Gläubige macht deswegen nicht Kurzschluss, sondern denkt wie Maria und Josef über alles nach und lässt sich aufklären; er findet diese Paradoxien nicht (mehr) absurd, unglaublich oder verrückt, sondern staunenswert und wunderbar. Wieder und wieder umspielt der Melode die Kernwörter Geburt, Kind, Stern, Erscheinung, Gott, und überwältigt von der liebenden Zuwendung und der «Genialität» von Gottes Heilsplan singt er in der Schlussstrophe, indem er Maria zu ihrem Kind sprechen lässt:

Heiland, heile die Welt, die im Unheil versunkene./

Da erschienen Du bist mir und den weisen Reisenden/

und sämtlicher Schöpfung, so rette das Deine./

Du hast das Licht den Magiern offenbart, Dein Antlitz, das göttliche;/

sie knien nieder, Gaben, erlesene,/

bringen Dir sie dar, gar schöne, kostbare./

Und ihrer werde ich bald bedürfen,/

denn nach Ägypten muss ich ziehn, um Deinetwillen fort zu fliehn,/

o mein Führer, mein Sohn und Schöpfer und mein ganzer Reichtum:/

ein kleines Kind und vor aller Ewigkeit Gott!

Christi Geburt (westl. Buchmalerei, 1. H. 12. Jh.)

Dr. Jean-Paul Deschler, Protodiakon