Fastenzeiten und ihre Bräuche

Für die Kirchen des Ostens wie des Westens ist Ostern das Fest aller Feste. Die Bedeutsamkeit dieses Ereignisses ist so gross, dass sich schon sehr bald eine eigene Vorbereitungszeit auf Ostern entwickelte: Die heiligen 40 Tage oder die Grosse-Fastenzeit.

Fasten ist biblisch

Im biblischen Umfeld wird der Zahl 40 eine besondere Bedeutung beigemessen. Die 40 Tage erinnern an die Sintflut, die Wüstenwanderung des Volkes Israel, die Gesetzgebung auf dem Berg Sinai an Mose, an die vierzig Tage und Nächte, die der Prophet Elija brauchte, um zum Gottesberg Horeb zu gelangen und schliesslich die vierzig Tage, die Jesus in der Wüste verbrachte.

Die Zahlt 40 in der Bibel begegnet uns also immer im Zusammenhang mit der Voranzeige eines Heilsereignisses. So ist sie auch eine Vorbereitungszeit auf die Feier des Todes und der Auferstehung unseres Herrn Jesus Christus und heisst daher «Quadragesima» = 40. Diese Vorbereitungszeit geschieht durch Umkehr und Busse und in der Haltung des freiwilligen Fastens und Verzichtes.

Das Fasten der Gläubigen in den Ostkirchen bedeutet die Enthaltsamkeit von bestimmten Lebensmitteln wie Fleisch, Fisch, Milcherzeugnisse, Eier sowie Öl (wie früher die Katholiken am Freitag auf Fleisch verzichteten). Die Kirchen des Ostens gehen einen anderen Weg als die Kirche des Westens. Diese hat die Fastenvorschriften für den «modernen Menschen» fast aufgehoben. – Heute gelten in der Westkirche (Röm.-kath.) nur noch der Aschermittwoch (Beginn der Fastenzeit) und der Karfreitag als Fasttag.

Die Ostkirchen halten an ihren strengen Forderungen fest, geben aber dem Einzelnen die Möglichkeit, sein eigenes Mass zu finden, das er zu erfüllen in der Lage ist.

Die Bedeutung des Fastens und seine Befolgung heute

Ein Auszug aus den offiziellen Dokumenten der Orthodoxen Synode auf Kreta 2016 soll es verdeutlichen:

  • In strenger Übereinstimmung mit den apostolischen Vorschriften, den synodalen Canones und den patristischen Traditionen insgesamt hat die Orthodoxe Kirche stets die grosse Bedeutung des Fastens für unser geistliches Leben und für unsere Erlösung verkündet.
  • Die unlösliche Verkündung zwischen Fasten und Gebet zeigt also Umfang und Ziel des Fastens an und offenbart dessen geistliche Natur. Aus diesem Grunde sind alle Gläubigen eingeladen, die ihnen entsprechende Antwort zu geben, jeder und jede in bestem Masse der eigenen Stärke und Fähigkeit, ohne die Freiheit zuzulassen, diese heilige Einrichtung zu missachten.

Zugleich verkündet sie die Notwendigkeit, alle Fastenzeiten während des Jahres zu halten, insbesondere die grosse Fastenzeit, das Fasten am Mittwoch und Freitag, das in den heiligen Canons bezeugt ist, und ebenso die Fastenzeiten für Weihnachten, die Feste der hl. Apostel und für die Entschlafung der Gottesmutter; sowie das eintägige Fasten am Fest der Erhöhung des Heiligen Kreuzes, am Vortag von Epiphanie und zum Gedenktag der Enthauptung von Johannes dem Täufer, zusätzlich zu dem Fasten, das aus pastoralen Gründen festgelegt wird oder das gemäss dem persönlichen Wunsch der Gläubigen gehalten wird.

Die Fastenzeiten in der Ostkirche

Es wird unterschieden zwischen eintägigen und mehrtägigen Fastenzeiten:

Zu den mehrtägigen: gehören die Grosse Fastenzeit (vor Ostern), die Apostelfastenzeit (Petrus und Paulus), die Fastenzeit vor Mariä Entschlafung (Maria Himmelfahrt) und die Fastenzeit vor Weihnachten.

Zu den eintägigen: gehören die Fasttage Mittwoch (Gedenken an den Verrat) und Freitag (Gedenken an das Todesleiden Jesu) jeder Woche.

Die Grosse-Fastenzeit

Den sieben Wochen der Fastenzeit gehen drei Vorbereitungswochen voraus. Diese Vorfastenzeit beginnt mit dem Sonntag des Zöllners und Pharisäers. Am Vorabend dieses Sonntags wird ein besonderes Bussgebet gesungen: «Öffne mir die Tore der Reue…» Dieser Gesang wird an allen Samstagen wiederholt, bis zum fünften Samstag der Fastenzeit. Während der Woche des Zöllners und Pharisäers gibt es am Mittwoch und Freitag kein Fasten, um es nicht dem Pharisäer gleich zu tun, der sich seiner Frömmigkeit rühmte.

Mit dem Sonntag des verlorenen Sohnes beginnt die zweite Woche der Vorfastenzeit, in der Liturgie wird das Evangelium vom Gleichnis vom verlorenen Sohn gelesen.

Mit dem Sonntag des jüngsten Gerichts beginnt die dritte Woche der Vorfastenzeit, es ist der letzte Tag, an dem Fleisch gegessen wird. Vom darauffolgenden Montag bis Ostern darf man kein Fleisch mehr essen.

Der Sonntag der Vertreibung des Adam wird auch Sonntag des Verzeihens oder Sonntag des Käseverzichts genannt. Am Abend versammeln sich alle in der Kirche zum Ritus des Verzeihens. Diese Vesper wird bereits als Fastengottesdienst gehalten. Das gegenseitige Verzeihen ist eine unumgängliche Bedingung für die Reinigung des Herzens und ein erfolgreiches Fasten.

Die grosse Fastenzeit unterscheidet sich von allen anderen durch

a besondere Gottesdienste. Das heisst am Montag, Dienstag und Donnerstag wird keine Liturgie gefeiert. Am Mittwoch und Freitag wird die Liturgie der Vorgeweihten Gaben zelebriert, am Sonntag die Liturgie des heiligen Basilius des Grossen.

b In den Gottesdiensten wird da Gebet des heiligen Ephräm des Syrers mit 16 grossen und kleinen Verbeugungen gelesen: «Herr und Gebieter meines Lebens, den Geist der Trägheit, des Kleinmuts, der Herrschsucht und unnützer Worte nimm von mir, gib mir hingegen, deinem Knecht, den Geist der Weisheit, der Demut, der Geduld und der Liebe. Ja, mein Herr und König, lass mich sehen meine Fehler und nicht richten meine Brüder und Schwestern, denn du bist gesegnet in die Äonen der Äonen, Amen»

Ephräm der Syrer, SEERI-Kapelle, Kottayam, gemalt von P. George Kurisummoottil (seit Nov. 2020 Bischof der Knanaya-Gemeinde: Mar Aprem!) – auf dem Rotulus steht: «Und ich schreibe meinen Schülern mein Testament: Seid beharrlich im Gebet bei Tag und bei Nacht.»

Einige Besonderheiten der Fastenwochen

1. Woche: Endet mit dem ersten Fastensonntag Sonntag der Orthodoxie – die Feier des Sieges der Ikonenverehrung auf dem siebten ökumenischen Konzil.

2. Woche: Am Sonntagabend wird vielerorts der erste Passionsgottesdienst gefeiert mit einem Akathistos-Hymnus zu Ehren des Leidens Christi.

3. Woche: Diese Woche endet mit dem dritten Fastensonntag oder Sonntag der Kreuzverehrung. Das Kreuz bleibt die ganze Woche zur Verehrung in der Mitte der Kirche.

4. Woche: An allen Tagen der Woche wird das Kreuz verehrt, es ist eine Woche des strengeren Fastens. Der vierte Fastensonntag ist dem ehrwürdigen Johannes Klimakos geweiht.

5. Woche: Der Samstag heisst «Akathistos-Samstag  oder Lobpreis der Allheiligen Gottesgebärerin. Bei der Vesper wir der Akathistos-Hymnus zu Ehren der Gottesmutter gesungen.

Der fünfte Fastensonntag ist der heiligen und ehrwürdigen Büsserin Maria von Ägypten geweiht.

6. Woche: der Samstag der sechsten Fastenwoche heisst Lazarussamstag, man gedenkt des gerechten Lazarus, der von Jesus am vierten Tag seines Todes auferweckt wurde. Mit dem Palmsonntag (der Einzug des Herrn in Jerusalem) endet diese Woche.

Auferweckung des Lazarus, Syr. Hs., 13. Jh., am Lazarus-Samstag (vor Palmsonntag) als «Kleines Osterfest» gefeiert – Aufschrift in Syrisch: «Als Jesus, unser Herr, Lazarus wiederbelebte»

Karwoche

An den ersten drei Tagen wird die Liturgie der Vorgeweihten Gaben zelebriert.

Am Grossen Donnerstag (Gründonnerstag): wird des letzten Abendmahls gedacht. (Einsetzung des Sakraments der Eucharistie).

Am Abend findet der Gottesdienst des Leidens Christi statt. Es werden zwölf Evangelien gelesen. Während der Verkündigung der Evangelien halten alle Kerzen in der Hand. Diese «Donnerstagskerze» wird brennend nach Hause getragen, um damit das Öllicht vor den Ikonen anzuzünden und mit der Flamme ein Kreuz über den Türbalken zu machen.

Der Grosse Freitag (Karfreitag): Es gibt keine Liturgie. Am Morgen werden die sog. Königlichen Horen gelesen. Um die Mittagszeit wird das Epitaphion, das Grabtuch Christi, aus dem Altarraum in die Mitte der Kirche getragen und für das Begräbnis bereit gemacht.

Der Grosse Samstag (Karsamstag): In der Frühe werden die Horen, die Vesper und die Liturgie des heiligen Basilius des Grossen gefeiert. Während der Vesper werden 15 Lesungen aus dem alten Testament gelesen (die Prophezeiungen über Christus und seine Auferstehung).

Im Anschluss an die Liturgie werden die Osterspeisen: Kulitsch, Pascha, Eier und Fleisch gesegnet.

Damit endet die Fastenzeit.

Das Apostelfasten

Diese Fastenzeit beginnt eine Woche nach Pfingsten und endet mit dem Fest der Apostelfürsten Petrus und Paulus. Ihr Ursprung wurde schon in den Apostolischen Konstitutionen vorgeschrieben und seit dem vierten Jahrhundert erwähnt.

Die Fastenzeit vor Maria Entschlafung

Diese Fastenzeit zu Ehren der Gottesgebärerin und immerwährenden Jungfrau Maria dauert zwei Wochen. In der alten Kirche hiess sie auch Herbstfastenzeit.

Die Weihnachtsfastenzeit

Beginnt 40 Tage vor Weihnachten und wird auch Philippusfasten genannt, da am Tag vor ihrem Beginn das Fest des heiligen Apostels Philippus gefeiert wird. In dieser Fastenzeit ist Fisch erlaubt, allerdings wird am Vortag des Festes nichts gegessen.

Die Bedeutung des Fastens in der Ostkirche

Am Beginn der grossen Fasten erinnert die Kirche die Gläubigen an die Werte des Apostels Paulus: «Speise aber wird uns Gott nicht näherbringen. Wenn wir nichts essen, verlieren wir nichts, und wenn wir essen, gewinnen wir nichts. Doch gebt acht, dass diese eure Freiheit nicht den Schwachen zum Anstoss wird.»

Das Fasten ist also nicht zu verstehen als ein Werk, das den Menschen vor Gott gerecht machen könnte. Zum Fasten gehört zudem seit jeher untrennbar eine Intensivierung des Gebets und das Abgeben von Almosen an die Bedürftigen. Recht verstandenes Fasten erfüllt also nicht einfach ritualistisch irgendwelche Vorschriften, sondern nimmt an einem konkreten Punkt die Busse als ganzheitliche Umkehr an und gewährt sie im Verzicht.

Archimandrit Roger Schmidlin

Literatur

  • «Einheit in Synodalität» hg Barbara Hallensleben Uni Fribourg / Aschendorff
  • Münster 2016
  • «Die Ostkirche betet» Münster 1962, P. Kilian Kirchhoff O.F.M. Band 1+2
  • «Orthodoxer Gottesdienst» Band V Triod, Fluegg 1999, Aleksey Malcev