Gesang und Pauke – Äthiopische Eindrücke (I)

Äthiopien ist ein Land mit einer fast unvergleich­lichen geographischen Vielgestaltigkeit und ebenso abwechslungsreicher, bewegter Ge­schichte; entsprechend finden wir in dem riesigen Bereich[1] auch eine Vielfalt von Nationalitäten, Stämmen und Sprachen (gegen 100 Millionen Einwohner mit rund 100 Sprachen und Dialekten).

Lachen mit Lust

Ob ich als Besucher aus dem geschäftigen Wes­ten mit Kindern oder Erwachsenen zu tun habe, mit Männern oder Frauen, Handwerkern oder Künstlern oder Intellektuellen, Angehörigen welt­lichen oder geistlichen Standes: immer fällt mir auf, wie gern die Äthiopier lachen.

Das zeigt sich schon bei einer ersten, manchmal auch nur flüchtigen Begegnung – zum Beispiel bei einem Spaziergang am Ufer des Awassa-Sees,[2] umso mehr, wenn ich als Gast (‑Referent) in   einer Schule empfangen werde, und erst recht wenn die Maids of the Poor mir in einer verlängerten Pause eine Kaffee-Zeremonie bereiten, da die Leiterin erfahren hat, dass meine Zwillingsschwester eben Geburtstag feiert. Die Maids of the Poor sind sozusagen „Welt- Nonnen“, also Frauen, die – vergleichbar mit „Weltpriestern“ – nicht im Kloster leben, sondern nach Ablegung religiöser Gelübde kirchliche Aufgaben in der Öffentlichkeit wahrnehmen.[3] Die rührige Direktorin Dinknesh Amanuel[4] ist auch Sekretärin der Konferenz der Höheren Ordensobern und „nebenher“ Patrologie-Dozentin.

Die Kaffeepause endet ungezwungen mit Liedern und Tänzen, begleitet von rhythmischem Klatschen und Paukenschlag.

Solche Abläufe scheinen bei Äthiopiern mit einer Spontaneität zu geschehen, die man fast ein Naturgesetz nennen möchte.

Natur und Kultur

Wenn aber von Natur die Rede ist, kann man ohne Übertreibung behaupten, dass sie den Menschen viel mitgegeben hat. Sie wurden „geprägt“ von den Bedingungen eines Lebens in üppiger Tro­penlandschaft oder im Hochland, in der kargen und heissen Depression mit den Salzseen der Afar-Senke,[5] vom Einfluss der verschiedenen Klimazonen mit mannigfaltiger Tier- und Pflanzen­welt. Daraus ergaben sich verschiedene Lebens­weisen von Jägern und Hirtennomaden oder fahrenden Händlern einerseits, sesshaften Acker­bauern und Handwerkern oder Geschäftsleuten andererseits. Dazu gesellte sich die Heraus­bildung von sozialen Ständen und Klassen. Übrigens ist Äthiopien seit einiger Zeit als „Wiege der Menschheit“ bekannt,[6] und von der Geschichte des Landes können wir 3000 Jahre überblicken.

Damit kommen wir zum Thema Kultur: Zahlreiche Werke der Architektur, Ikonographie und Literatur bezeugen ihre aussergewöhnliche Höhe und ver­dienen unsere Bewunderung.

Nur gilt leider für die meisten Zeitgenossen in westlichen Ländern die moderne Technik als einziger kultureller Gradmesser, und weil die Errungenschaften des  zwanzigsten Jahr-hunderts, die unser Leben so angenehm machen – z. B. asphaltierte Strassen sowie die Ver-sorgung mit Wasser und Elektrizität – heute noch nicht die Hälfte aller Häuser erreicht haben, wähnen sie die Äthiopier „hinter dem Mond“.

Tatsächlich stehen neben den mondänen Gebäuden von Verwaltung und Wirtschaft in Addis Abäba noch immer die ärmlichen, mit Kuhmist verputzten Baracken der Besitzlosen, und die meisten Autos im dichten Strassenverkehr sind nicht Privatwagen, sondern Sammeltaxis oder Busse.

Die Äthiopier sind jedoch mit Recht stolz auf ihre uralten Traditionen,[7] denn diese entwickelten sich vor allem mit der Einführung des Christentums[8] als Staatsreligion im 4. Jh. zur Hochkultur.

Dr. Jean-Paul Deschler, Protodiakon

Fotos

1) Bei den Maids of the Poor

2) Kaffeezeremonie

3) Gesang mit Begleitung

4) bis 6) Verschiedene Gesichter der Grossstadt


[1] Mit 1’100000 km2 etwa 26-mal so gross wie die Schweiz.

[2] 300 km südlich von Addis Abäba im Ostafrikanischen Grabenbruch.

[3] Das Säkularinstitut wurde in Indien gegründet und hat auch Mitglieder in Europa und Äthiopien.

[4] In Bild 1 Zweite v. links, stehend.

[5] In der Nähe des Golfes von Aden, etwa 150 m unter dem Meeresspiegel.

[6] Das Skelett der Lucy, 1974 entdeckt, ist über 3 Mio Jahre alt.

[7] Nicht zuletzt auf ihre Schrift, eine geniale Abugida.

[8] Die einzigartige Kirche von Äthiopien verdient eine eigene Betrachtung.