Hüben und drüben (II)

[Fortsetzung von Hüben und drüben (I), RB 5/2009: Eine Reise durch Rumänien und der Aufenthalt in einem orthodoxen Kloster vermitteln dem Besucher aus Westeuropa Eindrücke, die ihm an gewöhnlichen Touristen-Orten nicht zuteil werden. Einige kommentierte Notizen aus dem Tagebuch.]

Gregorianisch oder Julianisch?

Seit der Kalenderreform im 16. Jahrhundert entfernen sich die Daten des neuen Stils immer mehr von denen des alten; heute beträgt der Abstand dreizehn Tage. So feiern bekanntlich die Orthodoxen in Russland Neujahr wie wir am 1. Januar des «bürgerlichen Kalenders», Weihnachten aber erst am 7. Januar (denn dies ist nach altem Stil der 25. Dezember des vorangegangenen Jahres, hat also nichts mit Epiphanie oder «Dreikönig» zu tun)! Der Widerstand der Russisch-Orthodoxen Kirche gegen die Kalenderreform hat verschiedene Gründe, zwei davon sind «nur» psychologische: erstens hatte 1582 der römische Papst Gregor XIII. die Erneuerung verordnet (deshalb haben auch protestantische Länder bzw. Fürsten lange die Annahme verweigert), und zweitens war es das kirchenfeindliche Regime nach der kommunistischen Revolution, das im Februar 1918 den grigorianskij kalendar’ einführte!

Rom oder Jerusalem?

Mit dem «beweglichen» Osterdatum wird es noch komplizierter, weil die Berechnung u. a. vom ersten Frühlings-Vollmond abhängt, und hier kommen Hemmungen und Widerstände auf römischer Seite ins Spiel: Soll für die astronomische Berechnung der Meridian von Rom zugrunde gelegt werden oder der von Jerusalem? Historische und ökumenische Gründe sprechen deutlich für Jerusalem, und so müsste die lateinische Kirche doch einmal zugeben, nicht «Zentrum und Mutterschoss» der Weltkirche zu sein, obwohl Petrus und seine Nachfolger in der «Ewigen Stadt» ihren Sitz haben und Rom den Katholiken jahrhundertelang diese Meinung einhämmerte. Unvoreingenommene Beachtung der geschichtlichen Entwicklung (es braucht dazu kein akademisches Studium) muss zur Erkenntnis führen, dass sowohl die byzantinische Kirche wie auch die Westkirche «Ableger» der palästinischen Urkirche sind. Die Rangstreitigkeiten zwischen den Kaiserstädten Rom und Konstantinopel sind völlig unchristlich. Paulus konnte sehr zornig werden, wenn er sich mit den lächerlichen Reibereien zwischen Personen oder Parteien befassen musste (z. B. 1Kor 3,3ff.). Den Aposteln ging es einzig darum, in aller Welt die Heilsbotschaft zu verkünden.

Kirchturm oder Kuppel?

Gemessen an der Wahrheit der Botschaft spielen die kulturbedingten Formen in den verschiedenen Weltgegenden eine untergeordnete Rolle. So haben die Christen von Rom einen kirchlichen Versammlungsraum entwickelt, der sich an der herkömmlichen Basilika orientierte (griech. «Königshalle»), einem langgestreckten Gerichts- und Marktgebäude. Die in Byzanz entstandene Kreuzkuppelkirche hat in den verschiedenen Ländern ganz unterschiedliche Formen gezeitigt; man vergleiche nur die Kuppeln in Russland, in der Ukraine und in Rumänien. Auch politische und wirtschaftliche Gegebenheiten bringen Verschiedenheiten hervor, die hingenommen werden dürfen (oder müssen), wenn sie nicht den Glauben selbst tangieren: Es ist nicht wichtig, ob Glockengeläute zum Kirchgang ruft oder der Hammerschlag am Semantron (aufgekommen im Osmanischen Reich, wo den Christen der Bau von Kirchtürmen verboten war). Wesentlich ist, dass sich die Gläubigen überhaupt zum Gottesdienst versammeln.

«Messe lesen» oder Liturgie singen?

Die wichtigsten Instrumente der Gottesbegegnung sind Sprache und Hymnus; deshalb haben die Christen wie alle Völker ihre Gottesdienste in wohlklingenden Worten und Melodien gestaltet, und deshalb sind bei der Christianisierung der Völker als Erstes die Texte von Evangelium und Liturgie übersetzt worden, beispielsweise ins Äthiopische (im 4. Jh.), ins Armenische und Georgische (5. Jh.), ins Slavische (9. Jh.). In der Eucharistie («Danksagung» für die Heilstaten Gottes) stimmen wir ein in die Liturgie der Engel (… und sie sangen ein neues Lied… Off 5,9); in seinen Briefen spricht Paulus öfters vom Psalmen- und Hymnensingen (Eph 5,19f.) und zitiert auch aus urchristlichen Gesängen.

Wo der Gottesdienst in einer Sprache gefeiert wird, die der teilnehmenden Gemeinde nicht geläufig ist, schwindet zwangsläufig das Verständnis für seine Bedeutung. Die Teilnahme der indischen Thomas-Christen am Qurbono, heute ein lebendiger gesungener Austausch zwischen Volk, Lektoren, Diakon und Priester in der heimischen Sprache Malayalam, ist erhebend. Andererseits bemerken Touristen, die in Griechenland eine orthodoxe Liturgie besuchen, dass manche Gläubige zeitweilig die Kirche für eine Rauchpause verlassen, und führen dies auf die Länge der Gottesdienste zurück; in Wirklichkeit ist daran die altgriechische Kirchensprache schuld, die ein Grieche von heute nicht mehr versteht.

Allzu lange war auch in der westlichen Kirche der Übergang vom «sakralen» Latein zur Volkssprache tabu, und als er 1963 plötzlich erfolgte, stand für den gregorianischen Gesang kein Ersatz bereit. Das Malaise hat aber noch weiter reichende Wurzeln: Im Mittelalter begann man das Priestertum als einzigen erstrebenswerten Stand anzusehen, in den Klöstern wurden die meisten Mönche zu Priestern geweiht, die tägliche «Privatmesse» (ohne andere Teilnehmer!) führte dazu, dass der Diakonat verschwand. Daher kommt auch der Ausdruck «Messe lesen» (im Französischen «dire la messe») anstelle des vormaligen «Messe singen» (so noch in den isländischen Sagas)! Als dann die Priester in den Pfarreien auch zum mönchischen Zölibat verpflichtet wurden, war die kirchliche Zweiklassengesellschaft von «Geistlichen» und «Laien» besiegelt.

Als Hindernis auf dem Weg zur Heilung des Bruchs von 1054 nennen orthodoxe Theologen immer wieder das Papsttum: In Bezug auf die andern Patriarchate dürfe es nicht die rechtlichen Befugnisse beanspruchen, die es sich im Verlauf des zweiten Jahrtausends angeeignet habe, und auch der Papst müsse sich einem allgemeinen Konzil unterordnen. Die Wiedergewinnung der Einheit (Communio) zwischen Orthodoxie und katholischer Kirche ist grundsätzlich möglich, weil beide die Sakramente und die apostolische Sukzession (lückenlose Nachfolge der Bischöfe bis zu den Aposteln) haben.

Was wir auf der Reise zu den Moldau-Klöstern erlebt haben, möchte ich vielen Brüdern und Schwestern in unseren westlichen Ländern wünschen: Die natürliche Offenheit der einfachen Leute, ihre Lebensweise, die noch nicht vom Hightech-Wahn angekränkelt ist, die Begegnung mit Kult und Kultur östlicher Kirchen, der Tagesablauf der Mönche, der mit seinen geregelten Gebetszeiten den Menschen als «Wegweiser zum Himmel» dient: all die Erfahrungen einer solchen Pilgerreise können uns helfen, beengende Grenzen zu überspringen. Reise und Sprung sind auch geistig möglich – z. B. durch Lektüre. Es wäre ein reicher Gewinn für viele Menschen, wenn sie lernen würden, ihr gewohntes «Hüben» mit dem andersartigen «Drüben» zu verbinden!

Doch müssen wohl noch viele während der langen Trennungszeit errichtete gefühlsmässige Barrieren weggeräumt werden – und vielleicht muss die Gottesmutter die störrischen Kinder Gottes noch etliche Zeit mit wunderbaren Erscheinungen warnen, wie es die Ikone tut, die wir auf der Rückreise im siebenbürgischen Gheorgheni besuchen konnten:

Wunder und Warnung

Mit Wundern warnt uns Gott beizeiten:

Das Bild der Jungfrau-Mutter weint,

es blutet, träufelt duftend Öl,

auf dass dem Volk kein Zeichen fehl’ –

dass wir dem Frieden uns bereiten

und endlich uns der Geist vereint.

Dr. Jean-Paul Deschler, Protodiakon