In Erwartung des Gerechten

Zum Advent gehört das Lied Tauet Himmel den Gerechten, Wolken regnet ihn herab“ (Js 45,8). In diesem Lied aus dem 18. Jh. wird das Harren von Gottes Volk auf das Kommen des Messias beschrieben. Es knüpft an eine Verheissung Gottes an, dass die Bedrängten „einst den Mittler selbst sehen“ und schliesslich „zum Himmel eingehen“ werden. Mit diesem Gerechten ist niemand Geringerer als der Sohn Gottes gemeint; er wird „Leben, Licht und Gnadenfülle“ bringen.

Ob des Lateinischen kundig oder nicht wird dieses Lied im Advent frühmorgens bei Kerzenschein gesungen: „Rorate, coeli, desuper, et nubes pluant iustum“. Dieser Schrei zum Himmel, dass endlich die „Sonne der Gerechtigkeit“ aufscheinen möge, gab diesen Andachten den Namen „Rorate-Gottesdienste“.

Dass durch den Gerechten Heil und Gerechtigkeit auf die Erde kommen wird: dies ist eine Zusicherung des alttestamentlichen Gottes. Dabei kann der Gerechte als Mittler, Richter, Retter oder Erlöser erfahren werden.

In der Bibel

Im AT finden sich folgende Ansatzpunkte:

Gerecht ist, wer für Unschuldige eintritt und nicht zulässt, dass jemand benachteiligt wird. (Ex 23,6-8)

Gerecht ist, wer redlich und rechtschaffen ist, und dies Gott und den Mitmenschen gegenüber.

Rechtschaffenheit ist eine Forderung Gottes und Inhalt einer Lebensführung, wie sie Gott erwartet und zum Aufbau einer guten Gemeinschaft notwendig ist (Spr 10,24-32). Gott garantiert den Seinen Heil, d.h. denen, die Gott ernst nehmen, und Gerechte genannt werden (Js 45,24). Daraus folgt, dass der Gerechte sich an die Gebote Gottes hält: Wer die Einzigkeit Gottes anerkennt und die Mizwot beachtet, d.h. die 613 im Judentum gültigen Vorschriften, gilt als gottesfürchtig. Ein solcher Mensch richtet sein ganzes Leben nach den Weisungen Gottes aus, indem er die Thora befolgt.

Das AT sieht für Nicht-Juden nur die sog. Noachidischen Gebote vor, basierend auf den Vorgaben Gottes an Noah, welche nur sieben Bestimmungen enthalten (Gn 9,1–13). Wer diese Weisungen einhält, wird als Zaddik (Gerechter) angesehen.

Noah – der Gerechte

In der Bibel wird Noah als einer der Ersten als Gerechter bezeichnet. Von ihm heisst es, dass er „seinen Weg mit Gott“ gegangen sei (Gn 6,9). So hat Gott ihn und seine ganze Familie vor der Sintflut bewahrt und anschliessend mit ihm einen Bund geschlossen. Als Zeichen für diesen Bund zwischen Gott und allen „lebenden Wesen“ gab Gott den Regenbogen, der Himmel und Erde miteinander verbindet (Gn 9,13-17).

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Abb. 1: Regenbogen über Jerusalem

Abraham – der Gerechte

Abraham wird als erster Mensch dargestellt, der dem Ruf Gottes gefolgt ist und mit Hab und Gut das Land seiner Väter zurückliess, um – einzig und allein auf diesen unbekannten, einen Gott vertrauend – in ein Land zu ziehen, welches Gott ihm verheissen hat. Abrahams Handlungen (Gn 14,21-24), besonders im Einsatz um Entrechtete, Fremde und Benachteiligte, gingen aus seinem Glaubensverständnis hervor und gründeten in einer tiefen Gotteserfahrung. In allem rief er Gott an, der sein ständiger Begleiter war. So wurde Abraham zum Inbegriff des Gerechten, auf Grund seiner aus dem Glauben motivierten und praktizierten Gerechtigkeit (Gn 15,6).

Im Neuen Testament:

Das NT knüpft in den Paulus-Briefen bei Abraham an. Er wird als Inbegriff eines Gerechten dargestellt. Dabei wird der Glaube als Voraussetzung bezeichnet (Rm 4,2-5), damit die von Gott gewirkte Gerechtigkeit Wirklichkeit werden kann (Rm 3,21-26). Gerecht zu sein hängt also nicht nur von guten Werken ab (Rm 3,27f.). Ferner muss Gerechtigkeit vor Gott und nicht vor den Menschen gelebt (Mt 6,1) und zu selbstloser Liebe gesteigert werden (Mt 5,43-48).

Im NT ist der Gerechte der neue Mensch, der in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit lebt (Eph 4,24). Dabei soll bei allem Jesus, der Sohn Gottes, der wahrhaft Gerechte, Vorbild sein (Rm 4,23f.).

Gerechter unter den Völkern – Yad Vashem

Nach der Staatsgründung von Israel 1948 wurde der Ehrentitel Gerechter unter den Völkern nichtjüdischen Personen zugedacht, welche unter der NS-Herrschaft des Zweiten Weltkriegs ihr Leben einsetzten oder sich persönlichen Risiken und Nachteilen aussetzten, um Juden während des Holocaust vor der Ermordung zu retten. Quelle ist der Talmud, in dem es heisst: „Die Gerechten aus den Völkern haben einen Platz in der kommenden Welt“, d.h. im Reich Gottes. So wurde 1953 in Yad Vashem eine Gedenkabteilung für die Gerechten unter den Völkern eingerichtet. Yad Vashem (hebr. „Denkmal“ und „Name“), also etwa mit „Denkmal der Namen“ zu übersetzen, bezieht sich auf Js 56,5: „Ihnen allen errichte ich in meinem Haus… ein Denkmal, ich gebe ihnen einen Namen…, einen ewigen Namen gebe ich ihnen, der niemals getilgt wird.“

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Abb. 2: Eingang zum Garten mit den Namenstafeln

Der Gerechte – Hanif – Heilige

In allen drei monotheistischen Religionen gibt es einen Ausdruck für Menschen, die in einzigartiger Weise ihren Glauben in einen tatkräftigen Wirkungskreis umsetzen und so für die Menschen zu Vorbildern werden.

Im Judentum wird ein Gerechter, dessen Handeln und Sein die blosse Gerechtigkeit übersteigt, ein Zaddik genannt. Dies ist ein religiöser Titel, der einen hoch angesehenen, moralisch herausragenden und insofern als heilig erachteten Menschen bezeichnet. Ein Gerechter tut mehr, als Gottes Gesetze verlangen. Es ist auch eine Ehrenbezeichnung für einen frommen Juden, der eine besondere Beziehung zu Gott hat. Ein Gerechter wird oft als Ratgeber aufgesucht; manchmal wirkt er auch Wunder. 

Als Hanif wird im Islam ein Mensch bezeichnet, der Gott ergeben ist (Sure 22,31), der dem einzigen Gott nichts beigesellt, also den richtigen Glauben hat. Insofern folgt er der Religion Abrahams (Sure 2,135; 3,95), welche als vorislamischer Monotheismus bezeichnet wird, jedoch nicht mit Judentum oder Christentum gleichzusetzen ist (Sure 3,67). Mit Hanif wird ein gläubig-frommer Mensch bezeichnet, der seinen Glauben in exemplarischer Weise lebt und praktiziert.

Im Christentum redet man von Heiligen. Dies sind Menschen, die infolge einer tiefen Gottesbeziehung ganz vom Glauben durchdrungen sind, so dass sie auch befähigt werden können, in Gottes Namen Wunder zu wirken. Ihr Leben und Handeln haben Vorbildcharakter. Viele Heilige sind für ihren Glauben gestorben.

Was einem Gerechten, HanifoderHeiligen gemeinsam ist: Sie leben ganz aus dem Glauben, beschränken sich aber nicht darauf, Gottes Weisungen strikt und stur zu befolgen, sondern richten sich in allem nach der menschlichen Bedürftigkeit aus, um das Heil der Menschen zu fördern. Einer, der diese Haltung beispielhaft vorgelebt hat, ist Jesus, der Gerechte.

Maria Brun, Dr. theol.