Nächstenliebe – zu welchem Preis? Nächstenliebe – um jeden Preis!

I. Nächstenliebe ist das Gebot, welches Christen auszeichnet, auszeichnen sollte. Im Kontakt mit andern Religionen wird dieses Gebot zunehmend von Nicht-Christen in Anspruch genommen. So etwa: Zakat und Sadaka, die Pflicht- und die Armensteuer, und an Bayram Armen Gutes tun – für den Islam. Mitleid haben mit der ganzen Kreatur, d.h. allen Lebewesen mit rechtem Denken, Reden und Handeln begegnen – im Buddhismus. Sich für die Not anderer interessieren, Kranke besuchen – im Judentum.

Nächstenliebe ist explizit ein Gebot, welches Jesus aufgetragen hat. Im Gespräch mit einem Gesetzeslehrer (cf. Lk 10,25-37) macht Jesus anhand der Geschichte vom „Barmherzigen Samariter“ deutlich, was er mit diesem Gebot meint: ausnahmslos jeder und jede, der meine Hilfe braucht, dem soll man helfen, denn er ist mein Nächster, meine Nächste. Helfen ohne Einschränkung. Ohne Wenn und Aber. Ohne Definition von Not. Ohne Präzisierung der Hilfeleistung. Jesus vertraut auf den normalen Menschenverstand, dass es Situationen gibt, die nicht vorgängig durch eine Ethikkommission begutachtet werden müssen und keiner Jury bedürfen. Man hilft, weil man nicht anders kann, weil man nicht an der Not des andern, der mein Mitmensch ist, vorbei gehen kann.

Die Forderung Jesu für die spontane Anwendung der Nächstenliebe gründet im dreifachen Liebesgebot: „Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst“ (cf. Lk 10,27). Nächstenliebe ist also keine Gefühlsduselei. Nein. Sie ist verankert in der Gottesliebe, welche eine zweifache Dimension beinhaltet: Weil Gott den Menschen liebt bzw. zuerst geliebt hat und der Mensch im Glauben diese Liebe akzeptiert und erwidert. Die Nächstenliebe ist eigentlich die verlängerte Gottesliebe, praktiziert durch den einzelnen Menschen. Und umgekehrt: durch die erfahrene Nächstenliebe kann ein Mensch den Weg zu Gott finden.

Da bleibt jedoch noch die dritte Dimension: „liebe… wie dich selbst“. Dieser kleine Nachsatz wurde in früheren Zeiten vielfach ignoriert und als egoistisch interpretiert. Unter den heutigen Lebensumständen ist er jedoch ins Zentrum gerückt. Wer sich selbst nicht liebt, nicht annimmt, mit sich selbst nichts anfangen kann, wer hat da noch den Blick für andere? Man ist nur mit sich selbst beschäftigt oder lehnt das Leben als solches ab. Wer kann freimütig und unberechnet lieben, wenn er sich selbst nicht geliebt weiss?

www.hosentaschenbibel.de/die-erzaehlbilder.html

(Atelea-Verlag – Dr. Horst Heinemann, Fuldatal)

Die Nächstenliebe erwartet weder Lohn noch Anerkennung. Zugegeben: dies ist unzeitgemäss. Nächstenliebe ist bedingungslos und ungebunden. Zum Glück jedoch muss sie nicht versteuert werden, nicht einmal „Quellensteuer“ wird erhoben. Ausserdem entlastet sie den Staat. Dies sei gesagt: Motivation und Lohn gründen in einer immateriellen Quelle. Sie entspringt dem Übermass an Barmherzigkeit und Grossherzigkeit, die ein Mensch in seinem Herzen trägt und geht aus dem Glauben und der selbst erfahrenen Liebe hervor.

II. Diese Gedanken zur tatkräftigen Nächstenliebe sind motiviert durch meine Ferienlektüre[1], die die Geschichte eines 10-jährigen Flüchtlingskindes aus Afghanistan erzählt. Darin finden sich zwei Überlegungen, die mir zum Anlass dieser Zeilen gereichten. Beide beziehen sich auf den letzten Wegabschnitt, als der inzwischen 14-Jährige den Fuss auf europäischen Boden setzt, m.a.W. im christlichen Westen landet. Die spontane Hilfe einer alten „Dame“ in Griechenland, die ihn vorbehaltlos aufnimmt, zu essen gibt und neu einkleidet, bzw. mehrere positive Begegnungen in Italien, darunter mit einem italienischen Jungen (165ff.), lässt ihn zur Überzeugung kommen, dass man „eine solche Freundlichkeit nur durch Vorbilder (lernt)“ (167). Was bedeutet diese Einsicht für einen Christen, eine Christin? Ob Eltern, Bekannte oder Religionsvertreter als Vorbilder gelten, spielt nicht wirklich eine Rolle. Wichtig ist einzig die Quelle dieser Vorbilder. Diese entspringt – bewusst oder unbewusst – dem Bewusstsein, dass jeder Akt der Barmherzigkeit in der Gottesliebe verankert ist. Konkret heisst dies: Es ist die Nächstenliebe, diese Aufmerksamkeit unseren Mitmenschen gegenüber, auch im ganz Kleinen, die uns zu wirklichen Menschen werden lässt, zu sichtbaren Geschöpfen Gottes.

Und als der Flüchtlingsjunge, in der Zwischenzeit 18-jährig geworden, kurz vor dem Abschluss seiner Berufsausbildung steht, hat er endlich die Kraft, nach acht Jahren „Irrfahrt“ durch die verschiedensten Länder, mit seiner Mutter wieder Kontakt aufzunehmen. Die Motivation dazu begründet er folgendermassen: „Wer sich um andere kümmern will, muss erst einmal selbst mit sich im Reinen sein. Wie kann man lieben, wenn man sein eigenes Leben nicht liebt?“ (185). Diese Einsicht spricht direkt in die heutige Welt. Wie viele Erwachsene, wie viele Jugendliche „irren“ durch die Welt auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, nach Erfüllung, und machen die Erfahrung, dass ihnen das Glück in der Spassgesellschaft unentwegt entwischt? Und wie viele haben nicht den Mut, über den eigenen Schatten zu springen, sich vom Trügerischen loszusagen, und sich in jene Richtung aufzumachen, von der sie wissen, dass es die richtige wäre?

Dieser Flüchtlingsjunge aus einer völlig anderen Kultur macht also zwei Grunderfahrungen, die überall auf der Welt gemacht werden können und somit in allen Kulturen und Religionen Gültigkeit haben: Zum einen beinhalten sie eine heute mehr denn je gemachte tragische Lebensbeschreibung, wonach Menschen oft unverschuldet aus ihrem vertrauten Lebenskreis hinauskatapultiert werden, und zum andern treffen sie mitten ins Herz des christlichen Glaubens. Was heisst das? Nichts anderes als dass der wahrhaft gelebte christliche Glaube die vermisste Zuneigung und den Mangel an Liebe gar nicht erst aufkommen lassen dürfte.

www.kirchenblatt.ch – Jugendseite

(Ausgabe 24. Juli 2016 bis 20. August 2016)

Jesu dreifaches Liebesgebot entspringt also mehr als nur einer Lebensweisheit; es ist der Schlüssel zum gelebten christlichen Glauben. Und so ist jeder wahre Christ, jede wahre Christin, am Mass ihrer Nächstenliebe zu erkennen.

Maria Brun, Dr. theol.


[1] Geda Fabio, Im Meer schwimmen Krokodile. München: btb-Verlag 2012.