Uniformität oder Pluralismus?

Als „freischaffender Diener“ (Diakon ohne kirchliche Anstellung) habe ich seit vierzig Jahren Gelegenheit, sowohl die Länder im atheistisch dominierten Osteuropa als auch die Gebiete des Urchristentums im Nahen Osten und der indischen Thomaskirche[1] zu besuchen. Gerade dort habe ich gleichzeitig als Student und Professor eine Kirche kennen gelernt, deren Angehörige mir zu Freunden geworden sind – Kinder, Männer und Frauen, Laien und Bischöfe.

Hindutva oder Inkulturation?

Jesus vereint Religionen und Kulturen

Eine Ikone im Kurisumala Ashram („Kreuzberg-Kloster“) zeigt Jesus in der südindischen Berglandschaft. Er neigt sich liebevoll fünf Kindern zu, die deutlich verschiedenen Kulturen entstammen. Der Maler, Mönch Swamy Aruldas, hat im Medaillon darunter in Malayalam, der Landessprache Keralas, das Gebet geschrieben:

O erstes Wort,[2] Mensch geworden, umarmst Du alle Menschen, welcher Religion und Kultur immer sie angehören; führe sie zum wahren Licht und schenke ihnen die ewige Ruhe.

Der Ausdruck „ewige Ruhe“ könnte wie im Ara-mäisch-Syrischen (der liturgischen „Ursprache“ der Thomas-Christen) auch „beständigen Frieden“ bedeuten. In den liturgischen Texten des syrischen Ritus ist die Wendung šlomo w-šayno („Friede und Ruhe“) häufig. Vielfach wiederholt wird dieses Hendiadyoin am Montag der ersten Fastenwoche im „Dienst der Versöhnung“; in einem langen Sedro (Bittgebet mit Weihrauchopfer) sagt der Priester: „… Durch Deine Liebe mache uns zu Kindern des Friedens und der Ruhe. Vereine in Frieden die Hirten und ihre Herden…“

Das Bild mag als idealisierte Darstellung des friedlichen Zusammenlebens der Religionen in Kerala[3] aufgefasst werden – oder aber als Wunschbild für die Lösung der sozialen und politischen Probleme, die in manchen Bundesstaaten Indiens wegen ethnischen und religiösen Konflikten mit entsprechenden Parteikämpfen zu schlimmen Ereignissen geführt haben, gerade in den letzten dreissig Jahren wieder zu Christenverfolgung und brutalem Bombenterror. Die Hindutva, ein fundamentalistischer Hindu-Nationalismus, macht ohne logische Einsicht und geschichtliche Rücksicht Propaganda für die Idee, ein wahrer Inder sei nur einer, der Hindi spreche,[4] Hindu sei und zu den Rassen mit hellerer Hautfarbe im Norden gehöre.[5]

Jesu Verhalten und Lehre waren für seine Jünger die Entdeckung einer allumfassenden Liebe. Ablehnung, Verachtung und Hass zwischen Juden und Samaritern,[6] ebenso die Überheblichkeit und Selbstgerechtigkeit gegenüber „Zöllnern und Sündern“ müssen sich umwandeln in Barmherzigkeit und Nachsicht, Toleranz und Verständnis – auch wenn das Böse entschieden zu verurteilen ist.[7] So fordert auch Paulus die Kolosser auf, nicht zwischen Griechen (= Heiden) und Juden, Sklaven und Freien usw. zu unterscheiden,[8] denn Christus ist alles und in allen (3,11).

Wie positiv sich das Christentum auf die ethische und wirtschaftliche Wohlfahrt eines Volkes auswirkt, zeigt das Beispiel der Thomaskirche, die keineswegs ein importierter Fremdkörper ist,[9] sondern eine segensreich eingepflanzte Institution. Die geglückte Inkulturation – vergleichbar mit jener der äthiopischen Kirche – äussert sich in vielen religiösen Bräuchen, welche die Portugiesen im 16. Jahrhundert als heidnisch verbieten wollten. Hier sei nur das Anzünden des Nilavilakku (des indischen Bronzeleuchters mit mehreren Dochten) zur Eröffnung einer Feier erwähnt. Werte aber, die durch widrige Umstände verdrängt worden sind, erfahren heute eine Wiederbelebung, z.B. die einheimische Ikonenmalerei, die sich an der syrischen Ikonographie orientiert.[10]

Archimandrit Roger beim Anzünden des Nilavilakku (Jahresfeier einer Schule in Thumpoly)

Werke der Nächstenliebe

Seit zweitausend Jahren gehören zum christlichen Glauben die Werke der Barmherzigkeit, und in Indien wie in aller Welt sind die führenden sozialen Einrichtungen von den Kirchen geschaffen worden, kirchenfeindlichen Bewegungen freilich oft ein Dorn im Auge.

Auch in Zukunft leisten wissenschaftliche Arbeiten als Promotoren (z.B. die Forschungen, Studien und Konferenzen im SEERI, Kottayam, und im BVP, Pune), private Spender und nichtstaatliche Hilfsorganisationen die notwendige geistige und materielle Unterstützung.

Pflegefachfrauen und Bischof Stephanos im Spitalkomplex Pushpagiri, Thiruvalla

Ich selbst betrachte die Begegnung mit den östlich orthodoxen und den orientalischen Kirchen als grosses Geschenk; dies versuchte ich vor Jahren im Tagebuch mit einer Art Bekenntnis in Worte zu fassen:

Rückzug und Fortschritt

[… … …]

So lieb Latein und Rom mir waren,

bin oftmals ostwärts ich gefahren

und fand für mich ein halbes Leben

der Russen Ritus als den Fluss

des wahren Glaubens, schön und tief,

als Sphäre, wo Cherube schweben –

und mählich zeigte sich: Ich muss

dem Strome folgen, der mich rief,

doch auf- und ostwärts weiter wandern

und schöpfen aus der klaren Quelle,

die Rom, Byzanz und manchen andern

gedient – und über Syriens Schwelle

bin so ich dankbar spät getreten,

um endlich in den letzten Jahren

in Jesu Sprache auch zu beten.

Dr. Jean-Paul Deschler, Protodiakon


[1] Vgl. Zu dieser Bezeichnung und andern Begriffen geben die Beiträge in den Rundbriefen der Catholica Unio Erklärungen und konkrete Beispiele. Eine grössere Sammlung kirchengeschichtlicher und theologischer Ausdrücke bietet Jean-Paul Deschler, WORD AND MEANING – WORT UND BEDEUTUNG. Glossar zu Liturgie und Ikonographie mit besonderer Berücksichtigung ostkirchlicher Theologie. SEERI, Kottayam 22020.

[2] Christus, der ewige Logos Gottes (Jo 1,1ff.).

[3] Etwa 50% Hindus, 26% Moslems, 20% Christen.

[4] Bei einer Milliarden-Bevölkerung mit 100 Sprachen!

[5] Ein ähnlicher Arier-Rassenwahn hat sich in Deutschland ebenfalls seit Ende des 19. Jh. ausgebreitet, mit verheerenden Folgen in der Hitlerzeit. Die dunkleren Draviden von Südindien bevölkerten den Subkontinent schon 6000 Jahre vor der arischen Einwanderung!

[6] Vgl. die Parabel vom barmherzigen Samariter in Lk 10 und das Gespräch am Jakobsbrunnen Jo 4.

[7] Vgl. Mt 9,10ff. u. par.; 21,31; Lk 7,36ff.; 15,1ff.; 18,9ff.; Jo 8,3ff.

[8] Ähnlich und zusätzlich Mann und Frau in Gal 3,28.

[9] Abgesehen von den Fehlentwicklungen unter den europäischen Kolonialmächten.

[10] Der junge Priester George Kurisummoottil, dessen Ikonographie-Studium wir damals unterstützt haben und dessen Ikonen in Kirchen und Kathedralen zu sehen sind, ist vor einem Jahr als Mar Aprem zum Bischof der Knanaya-Gemeinde (Kottayam) geweiht worden.