Wage von einer besseren Zukunft zu träumen!

Gedanken von Papst Franziskus

Die Pandemie rund um Covid-19, die einen Lock-down heraufbeschwor und 2020 die Christenheit des Osterfestes beraubte, wird von Papst Franzis-kus in einer Weise durchschaut, dass er nicht nur von einer «weltweiten Krise» und einer «Zeit der Prüfung» redet, sondern lautstark klarmacht, dass die Welt «vor einem Wendepunkt» steht, denn «Covid hat die Perspektive umgedreht». Sein An-liegen, diesen Stillstand der Welt als Einkehrzeit zu nutzen, um den Stand der Menschen in der heutigen Welt zu eruieren und das mögliche Aus-mass der Pandemie mit all ihren Begleiterschei-nungen zu bedenken, gab er schriftlich zu Wort. (Papst Franziskus, Wage zu träumen! Mit Zuversicht aus der Krise. Im Gespräch mit Austen Ivereigh – München: Kösel 2020, 189 S.)

Die Überlegungen von Papst Franziskus sollen nicht ungehört bleiben, weshalb wir hier einige Schwerpunkte aufzeigen möchten.

Der Dialogpartner Austen Ivereigh beschreibt am Schluss des Buches die sehr eindrückliche Hal-tung von Papst Franziskus, die wir gleich an den Anfang dieses Beitrags stellen: «Er war – (und dies ist) sein besonderes Charisma – der geistli-che Begleiter der Welt; und nun, da die Welt in eine dunkle Nacht eingetreten war, ging er mit uns und leuchtete mit einer Fackel auf die vor uns lie-genden Wege und warnte uns vor den Klippen. Er suchte, die Dringlichkeit zu vermitteln, die Men-schen in Zeiten der Trübsal für die Gnade zu öff-nen, und so Gott unsere Geschichte gestalten zu lassen.»

Bei der Lektüre stellen wir fest, dass Papst Fran-ziskus einem Arzt oder Heiler gleich an die aktu-elle Sachlage herantritt: Er macht in einem ersten Schritt eine Anamnese des Ist-Zustandes der Welt und stellt eine Diagnose; in einem zweiten Schritt wägt er Heilungsmöglichkeiten ab; in einem drit-ten Schritt ruft er zur Durchführung der von ihm als Erfolg versprechenden Therapie auf. Konkret heisst dies: Das Buch hat – nach einem Vorwort des Papstes – drei Kapitel: 1. Eine Zeit zum Se-hen, 2. Eine Zeit zum Wählen und 3. Eine Zeit zum Handeln.

1. Sehen, analysieren und verstehen

Papst Franziskus beginnt mit einer Situations- und Werteanalyse. Es stellt sich die Frage: Wo befin-det sich die heutige Welt? In welche Zeit hinein fällt dieses lebensbedrohliche Virus? Zweifels-ohne hat Covid-19 eine weltweite Krise ausgelöst.

An dieser Stelle lohnt es sich, einen Blick auf das kleine Wort «Krise» zu werfen. Abgeleitet vom griechischen «krino», d.h. «unterscheiden, abwä-gen», fordert eine Krise die Menschen heraus, sich Zeit zu nehmen und die Situation, in der sie stehen, nach allen Seiten hin zu begutachten, in Gedanken abzuwägen, was gut und was ungut ist, wo man gefehlt hat, zu kurzsichtig war, eine Fehl-einschätzung gemacht hat, um schliesslich zu ent-scheiden, wie es weitergehen soll. Papst Franzis-kus betont, dass eine Krisen-Situation eine «Zeit der Prüfung» ist und zu einer «Zeit der Reinigung» werden soll. Seine Quintessenz lautet: «Ich sehe diese Zeit als eine Stunde der Wahrheit.» Men-schen sind verunsichert, weil ihr «Funktionalis-mus» erschüttert wird, weil «falsche Sicherheiten» aufgedeckt werden. «Die Krise hat die Wegwerf-Kultur sichtbar werden lassen», in der Materie, Profit und Fortschritt mehr Wert haben als der ein-zelne Mensch. Und sie hat den «Trugschluss» ans Licht gebracht, wenn der «Individualismus zum Organisationsprinzip der Gesellschaft erho-ben wird», Solidarität und Geschwisterlichkeit aber an den Rand gedrängt werden.

Gleichzeitig birgt eine Krise die Chance in sich, dass man sich und die Welt ändern kann.

Schliesslich muss der Mensch wählen, in welche Richtung sein weiteres Leben gehen soll. «Und in deiner Wahl zeigst du dein Herz»… In Krisen zei-gen sich die Menschen, «wie sie wirklich sind». «Gott (aber) fordert uns auf, es zu wagen, etwas Neues zu erschaffen» und uns daran zu erinnern, «dass wir zu ihm und zueinander gehören». Nur eine geschwisterliche Welt wird Gerechtigkeit und Freiheit für alle Menschen, auch die am Rande der jetzigen Gesellschaft stehenden, entstehen lassen, so dass das Leben in Einklang mit der Na-tur der Verheissung des Schöpfers entsprechen kann.

Papst Franziskus skizziert in diesem ersten Kapi-tel ein Manifest für eine Post-Covid-Gesellschaft, in der aber nicht mehr gelten kann, was die Welt sich bis anhin einbildete: «Lange Zeit dachten wir, wir könnten gesund bleiben, auch in einer kranken Welt.» Es bedarf einer rigorosen Kehrtwende!

2. Wählen, handeln und leben

Das zweite und dritte Kapitel beschäftigen sich mit den Fragen: Was sollen wir tun? Wo gibt es ver-nünftige Ansätze für den Aufbau einer besseren Welt? Welches sind Wege? Welches Irrwege? Welche Welt wünschen wir?

Papst Franziskus scheint von einer «heiligen Un-geduld» durchdrungen zu sein. Seine Devise ist: Die Kirche soll nach der Corona-Zeit nicht irgend-einer Reaktion frönen auf Beschlüsse, die «die Welt» gefasst – oder schlimmstenfalls nicht ge-fasst – hat. Nein. Die Kirche soll als Mitgestalterin einer besseren Welt auftreten, das heisst heute schon «die Zukunft vorbereiten». Und – um keine Zeit zu verlieren – hat er bereits eine Kommission ins Leben gerufen, die die «nach-Covid-Zukunft» vordenken soll. Heute schon. Die Chance ergibt sich jetzt, sie muss jetzt genutzt werden.

Der Ansatz, den Papst Franziskus skizziert, geht auf die Wurzeln des Christentums zurück, auf die Werte, die der «Schlüssel zum menschlichen Le-ben» sind. Nicht verhandelbare, sakrosankte Werte. Werte, die Gott in die Wiege der Mensch-heit gelegt hat. Konkret: Da Gott seine Schöpfung liebt, kann der Mensch nicht anders, als in einer Du-Beziehung zur Welt zu stehen und in unab-dingbarer, selbstloser Solidarität mit den Mitmen-schen zu leben.

Den Weg sieht er in der «Synodalität», einem Charakteristikum, welches von Anfang an die Kir-che geprägt hat, aber im Westen während Jahr-hunderten vernachlässigt und von Papst Paul VI. auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) wieder in den Vordergrund gerückt wurde. «Synodalität» bedeutet «den Weg zusammen ge-hen», Partner auf Augenhöhe sein – ohne Rivali-tät; Konflikte auf eine Meta-Ebene transferieren – fern von Fundamentalismus und Traditionalismus; in Offenheit für Gottes Wort sich vom Geist Gottes leiten lassen – das ewig Gestrige hinter sich las-send; mutig und furchtlos voranschreiten – und die Scheuklappen der Angst ablegen. Letztlich Gott das Wort überlassen, denn die Wahrheit ruht allein in Gott.

Die Zeit drängt, kreativ, mitgestaltend neue, unge-ahnte Lösungen aufzuspüren, um einen Wandel in der Welt zu bewirken. «Wandel» heisst jedoch «Umkehr». Covid führte die Menschheit in eine Sackgasse; der Ausweg führt nur über eine Kehrt-wende.

Wie, mit welcher Methode will Papst Franziskus vorankommen? Im Gebet, um innerlich zur Ruhe zu kommen, um offen zu werden, die Eingebun-gen des Geistes zu «hören», den Weg zu «se-hen» und die ungeahnten Möglichkeiten zu «er-kennen». Gottes Geist leitet zur «Bekehrung» an, damit sich Blockaden im Denken lösen und Ver-suchungen entlarvt werden – und die Menschen zu Mitgestaltern einer «neuen Welt» werden.

Das Ziel soll eine geläuterte Welt sein, in der die gelebte Geschwisterlichkeit alle Menschen zu ei-nem einzigen «Volk Gottes» zusammenführt, wel-ches in den je eigenen Traditionen verwurzelt ist, wo das «gemeinschaftliche Gedächtnis» der Nati-onen und die «kollektive Weisheit» aller Kulturen das Band einer lebendigen Wirklichkeit knüpft, wo die Würde dieses Volkes aus der Nähe zu Gott entsteht, und die Seele dieses geeinten Volkes sich aus der Liebe Gottes versteht.

So ist Papst Franziskus zum Vordenker einer bes-seren Zukunft geworden: Er entwirft eine Sozial-lehre für ein neues Volk Gottes, in einer mensch-licheren Welt, mit einer Menschheit, die dem Schöpfungsauftrag gerecht wird.

Dr. theol. Maria Brun