Wehklagen auch an Weihnachten

Rahel weint um ihre Kinder, oder: Das „Fest der unschuldigen Kinder“

Das Weihnachtsfest ist schützenswert…

Das „Hochfest der Geburt des Herrn“ oder – wie es in den Kirchen des Ostens genannt wird – das Fest „Geburt unseres Herrn, Gottes und Erlösers Jesus Christus dem Fleische nach“ gilt hier im Westen als das beliebteste Fest im Kirchenjahr. Mag sein, dass der eigentliche religiöse Inhalt dieses Festes immer mehr hinter den neueren Bezeichnungen „Fest der Liebe“ und „Fest der Familie“ zu verschwinden droht, doch das Bedürfnis, auch über alle kirchlichen Kreise hinaus an „Weihnachten“ festzuhalten, ist ungebrochen. Dies gilt offensichtlich ganz besonders in dieser schwierigen Zeit der Covid-Pandemie, wie die Rede des österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz vom 14. November anlässlich seiner Ankündigung und Rechtfertigung eines weiteren Lockdowns zeigt:
„Denn nur so können wir eine Überforderung unseres Gesundheitssystems verhindern… Nur so können wir vor allem das Weihnachtsfest retten und trotz der Pandemie diese Zeit, zwar vorsichtig, aber würdig, gemeinsam verbringen.“[1]

…es erschöpft sich aber nicht im familiären Beisammensein…

Sind Heiligabend und Weihnachtsfeiertag vorbei, fällt die über Wochen aufgebaute (freudige) Spannung ab und das „Fest der Liebe“ ist – für die einen leider, für die anderen glücklicherweise – wieder vorüber. Dem „Fest der Liebe und der Familie“ und den damit verbundenen Erwartungen gerecht zu werden, ist nicht leicht, ja für viele geradezu belastend. Wie soll dieses Fest gelingen, wenn im eigenen Leben „Liebe“ und „Familie“ mit belastenden Erinnerungen verbunden sind oder schon gar nicht vorkommen? Wer mag da noch genauer hinschauen, welche weiteren (Lebens-)Themen in den Tagen nach dem Weihnachtsfest anklingen? Wird das theologische Anliegen wahrgenommen, die Geburt Jesu nicht allzu leicht auf gefühlvolle und idyllische Bilder zu reduzieren, sondern sie in einem grösseren heilsgeschichtlichen Zusammenhang zu sehen? Schon der zweite Weihnachtstag weist in diese Richtung: Die Erinnerung an den ersten Märtyrer Stephanus (in der lateinischen Westkirche) oder an die Gottesmutter Maria und den Märtyrerbischof Euthymios von Sardes (in den byzantinischen Ostkirchen) deutet unmissverständlich darauf hin, wie sehr im Leben und im Glauben Freud und Leid, Licht und Dunkel unweigerlich zusammengehören. Dies klingt schon im weihnächtlichen Geschehen selber an: Vom ersten Moment an ist das Leben Jesu bedroht und durch schwierige Umstände geprägt, also weit davon entfernt, in einer heilen, idyllischen Welt aufgehoben zu sein.

…sondern öffnet den Horizont auch für die grossen und schwierigen Themen des Lebens.

Spätestens mit dem „Fest der unschuldigen Kinder“ am 28. (Westkirche) bzw. 29. Dezember (Ostkirche) wird die weihnächtliche Idylle gestört: Das Evangelium berichtet, wie König Herodes in seinem Wahn, das Kind in Betlehem könnte ihm den Königsthron streitig machen, alle Knaben bis zu zwei Jahren in Betlehem und Umgebung töten lässt. Und der Evangelist Matthäus fügt an: „Damals erfüllte sich, was durch den Propheten Jeremia gesagt worden ist: ‚Ein Geschrei war in Rama zu hören, lautes Weinen und Klagen: Rahel weinte um ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn sie waren dahin‘“ (Mt 2,16-18; Jer 31,15). – Rahel, Tochter Labans, war die grosse Liebe Jakobs; zweimal sieben Jahre musste Jakob seinem Onkel Laban dienen und zuerst dessen erste Tochter Lea heiraten, bevor er schliesslich Rahel zur Frau bekam. Rahel blieb lange kinderlos, bis sie ihm doch noch zwei Söhne gebar: Josef und Benjamin. Damit wurde sie zur Ahnmutter von zweien der zwölf Stämme des Volkes Israel (Gen 29-35); sie starb bei der Geburt ihres Jüngsten und wurde auf dem Weg nach Betlehem begraben. – Und die Klage Rahels? Jeremia tröstet die im babylonischen Exil (586 – 538 v.Chr) lebenden Israeliten und der Herr selbst sieht das Leid der Stämme Israels; er „hört“ geradezu die Klage der Ahnmutter Rahel, die um die Nachfahren ihrer Söhne trauert und deren Untergang beklagt. Matthäus setzt das Leiden Israels im Exil in Beziehung zum Leiden des Volkes unter der Herrschaft des Herodes. Und er lässt schon jetzt anklingen, welch grausames Schicksal dieses Kind in der Krippe erwarten wird. – Die Psychotherapeutin A. Thekla Kühnis Hartmann deutet die Thematik noch weiter aus:

Fresko Kloster San Mark, Sušica, Skopje, 14. Jh.

Um des EINEN willen wurden in Bethlehem mehrere, ja alle Knaben im ungefähren Alter bis zweijährig ermordet. Das fordert heraus, über die Relationen zwischen Geopferten und Geretteten nachzudenken, allgemein wie die Kinder von Bethlehem betreffend. Jedes Opfer im Strassenverkehr oder im Krieg und jedes Ungeborene, das in der ‚Abwägung der Güter‘ – als wäre der Mensch eine Sache – nicht leben darf, ist ein Toter zu viel. Unser menschlicher Gerechtigkeitssinn aber wird noch mehr schockiert, wenn wir ihn auf Gottes Pläne übertragen, wenn Opfer und Gewinn in einem so offensichtlichen Missverhältnis stehen und wir einer solchen Ungerechtigkeit ohnmächtig gegenüberstehen, wie es der Kindermord war. Wir bäumen uns auf wie Rahel. Rahel, das heisst Mutterschaft, lässt uns an Fruchtbarkeit denken. Ihre Kinder, die Kinder Israels, wurden wie Lämmer zur Schlachtbank geführt, geopfert um des einen Lammes willen. Dieses sollte durch den Tod der vielen vor dem Zugriff des Herodes gerettet werden, damit es – wenn seine Zeit erfüllt sein wird – sich selbst als Lamm freiwillig darbringen könne. Nur diese ganzheitliche Sicht gibt Sinn, da das Leben des einen Kindes schliesslich dem Heil der gesamten Schöpfung und somit auch den ermordeten Kindern von Bethlehem galt.

Rahel vertritt alle Mütter und alles Mütterliche in jedem Menschen, die um ermordete Kinder, um verlorenes, zerstörtes Leben – leibliches wie seelisches – weinen. Wir kennen wohl alle Trauer um Verluste echter Lebensmöglichkeiten; manche rieben sich tot an uns gesetzten Einschränkungen; manchen gestanden wir den nötigen Lebensraum nicht zu. Wer denkt aber nicht auch über sein persönliches Schicksal hinaus an all die unzähligen Mütter und Väter aller Zeiten, die ihre realen Kinder wie ihre geistigen Lebensmöglichkeiten durch Hunger, Krankheit und Katastrophen, durch Krieg und menschliche Destruktion verloren haben? Wie aktuell bleien Rahels und unsere Klagen leider noch immer…“[1]

Wie aktuell muten diese Worte in der heutigen Corona-Zeit an, gerade in der Weihnachtszeit, in der das Bedürfnis nach Gemeinschaft, nach einem „heilen Leben“, nach Gerechtigkeit und Frieden besonders spürbar ist.

Mit ihrer tiefenpsychologischen Betrachtung des Textes von der Ermordung der Kinder von Bethlehem und in der entsprechenden Deutung der dazugehörigen Ikone (Fresko im Kloster San Mark) führt A. Thekla Kühnis Hartmann den Leser und Betrachter in die Tiefen der eigenen Seele. So kann Rahels Klage um die toten Kinder, ihre Trauer, ihre Verzweiflung zu einem inneren Bild werden, – zu einem Bild oder Symbol für den eigenen persönlichen Schmerz über nicht gelebtes Leben, über zerstörte Hoffnungen, über erlittenes Unrecht. Die Klage, der Schmerz ist aber keineswegs Zeichen einer abgründigen Hoffnungslosigkeit, denn: „Indem Rahel trauern kann, bleibt sie wandlungsfähig. Tränen bringen oft seelische Erstarrung wieder in Fluss; sie können befreien, entspannen und wirken wie das Lebenswasser in den Märchen.“[2]– Selbst in grösster Dunkelheit, in Leid und Not, kann der Samen für eine wunderbare Wandlung liegen; auch dies ist die Botschaft von Weihnachten, jenseits jeder oberflächlichen Idylle. Darauf kann uns dieses „Fest der unschuldigen Kinder“ aufmerksam machen.

Daniel Blättler, Protodiakon


[1] Rahel weint um ihre Kinder, Trauer über ungelebtes Leben, S. 91-92 in: A. Thekla Kühnis Hartmann, Heilung unter dem Schatten. Heilungen auf Ikonen – Heilung durch Ikonen, Verlag Fluhegg 2011

[2] Kühnis Hartmann, S. 94