Wir brauchen die Gemeinschaft im Glauben und Denken

Anlässlich der Reise von Papst Franziskus ins Heilige Land führte „Die Tagespost“ ein Interview mit Seiner Seligkeit Patriarch Theophilos III. von Jerusalem. Die Lektüre hat mich aufhorchen lassen. Denn im Gegensatz zu unserer landläufigen Meinung, dass Katholiken und Orthodoxe nur theologische Kleinigkeiten und Erinnerungen an vergangenes Unrecht trennen, kommt darin zum Ausdruck, dass der Unterschied im Denken und im Glauben doch grösser ist. Es geht dabei um das Eigentliche, nämlich um das Kirchenverständnis und um das Ziel des christlichen Lebens.

„Die Tagespost“ fragte: „Gibt es aus orthodoxer Sicht eine Möglichkeit, das Papstamt unter bestimmten Bedingungen zu akzeptieren? Der heilige Papst Johannes Paul II. hat ja eingeladen, darüber nachzudenken.“

Patriarch Theophilos antwortete: „Wenn Sie durch die patristische Literatur gehen, dann finden Sie einen Gedanken, der das Christsein bestimmt: Die Herrschaft über sich selbst. Die Freiheit der Kinder Gottes. Das ist charakteristisch für den Christen. Gott hat uns das Geschenk gegeben, eigenverantwortlich zu handeln. Die letzte Autorität ist der Schöpfer, und Christus ist das Haupt seiner Kirche. Ich habe aber den Eindruck, dass Katholiken der Papst wichtiger ist als Christus.“ Diesen Eindruck erhielt er durch seine Begegnungen mit Katholiken.

Als Antwort auf die Frage: „Papst Franziskus spricht von sich häufig als Bischof von Rom und nicht als Papst. Ist das ein Zeichen in Richtung Orthodoxie?“ betont Patriarch Theophilos: „Es geht zunächst um die Einheit im Glauben und im Heiligen Geist. (…) In meiner Ansprache an Papst Benedikt hier 2009 habe ich gesagt, dass wir den Begriff der Einheit der Kirchen nicht nur administrativ und strukturell interpretieren sollten. Wir brauchen die Gemeinschaft im Glauben und Denken.“

Hier wird zuerst das zentrale Thema der frühchristlichen Askese, die „apatheia“, angesprochen: Nicht die Leidenschaften sollen den Menschen beherrschen, sondern das Eigentliche, der geistige Kern des Menschen, soll hervortreten und die Herrschaft über die Gefühle und Triebe erlangen. So wächst die geistige Gestalt, die ursprüngliche Schönheit des göttlichen Bildes im einzelnen Menschen heran. Jeder Mensch ist dabei für sich selber verantwortlich.

Mönch auf dem Berg Athos

In den Worten des Patriarchen können wir aber auch das altkirchliche Bewusstsein heraushören, dass jede mit ihrem Bischof verbundene Gemeinde im vollen Sinn Kirche ist. Sie braucht keine Legitimation von einer übergeordneten kirchlichen Autorität.

Und schliesslich sagt der Patriarch auch, dass die geistige Dimension der Kirche für orthodoxe Christen viel wichtiger und zentraler ist. Wir Katholiken suchen vor allem eine administrative und strukturelle Lösung für die Einheit der Kirchen. Die orthodoxen Kirchen denken vor allem in spirituellen Kategorien.

Unser Denken das Wesen der Kirche betreffend ist sehr verschieden. Die vom Patriarchen betonte Gemeinschaft im Glauben und Denken braucht unsererseits zuerst das Wahrnehmen der orthodoxen Spiritualität. Metropolit Hiero­theos von Nafpaktos kann uns dabei helfen. Er schreibt in „Orthodoxe Spiritualität. Eine kurze Einführung“ (http://www.orthlit.de/45.html):

„Spiritualität ist nicht ein abstraktes religiöses Leben, da die Kirche der Leib Christi ist. Sie ist nicht einfach eine Religion, die auf theoretische Weise an Gott glaubt. Die Zweite Person der Heiligen Dreiheit – der Logos Gottes – nahm die menschliche Natur für uns an. Er vereinigte sie mit Seiner Hypostase und wurde das Haupt der Kirche. Somit ist die Kirche der Leib des Gottmenschen: der Leib Christi.“

„Alle Askese in der Kirche zielt hin auf die theosis (Vergöttlichung) des Menschen und seine Gemeinschaft mit Gott der Dreiheit. Dies geschieht dann, wenn die Energie der Seele (nous) in ihr Wesen (Herz) zurückkehrt und aufsteigt zu Gott. Denn bevor die Einheit mit Gott erlangt wird, muss zunächst durch die Gnade Gottes die Einheit der Seele verwirklicht worden sein. In der Tat ist die Sünde die Zerspaltung dieser Kräfte; sie besteht primär in der Zerstreuung der Energie der Seele – also des nous – unter den Dingen und ihre Trennung vom Herzen.“

„Die heiligen Apostel wurden zuerst „geheilt“, dann empfingen sie die Offenbarung. Und sie vermittelten das Offenbarte ihren geistlichen Kindern nicht nur durch ihre Lehren, sondern vor allem dadurch, dass sie auf verborgene Weise deren spirituelle Wiedergeburt bewirkten. Um der Bewahrung dieses Glaubens willen formulierten die Heiligen Väter die Dogmen und Lehren. Wir akzeptieren die Dogmen und Lehren; mit anderen Worten, wir akzeptieren den offenbarten Glauben und bleiben in der Kirche, um geheilt zu werden. Denn der Glaube ist einerseits Offenbarung für die Geläuterten und Geheilten und andererseits der rechte Pfad für diejenigen, die dem „Weg“ folgen, um theosis (Vergöttlichung) zu erlangen.“

„Die drei Jünger Christi sahen die Herrlichkeit Christi auf dem Berg Tabor; sie hörten die Stimme des Vaters: Dies ist Mein geliebter Sohn, und sie sahen die Ankunft des Heiligen Geistes als eine Wolke. So erlangten die Jünger Christi das Wissen um den Dreieinen Gott in der theoria (der Schau Gottes). Das ist genau das, was der hl. Symeon der Neue Theologe lehrt. In seinen Hymnen verkündet er immer und immer wieder, dass der vergöttlichte Mensch die Offenbarung Gottes in der Dreiheit erlangt, während er das ungeschaffene Licht sieht.“

Verklärung Christi

„Daher ist die orthodoxe Spiritualität die Erfahrung des Lebens in Christo, die Atmosphäre des neuen Menschen, der durch die Gnade Gottes wiederbelebt wurde.“

Die Frage stellt sich, ob wir Katholiken uns zu schnell mit dem gelegentlichen Empfang der Sakramente der Versöhnung und Kommunion zufrieden geben und lieber Kirche und Welt verändern wollen, statt uns um unser eigenes geistliches Leben zu mühen. Wie wir gesehen haben, ist dies eine ökumenisch durchaus wichtige Frage.

P. Kilian Karrer